Tod der Heilgen

Repeat: Jake

Ich weiß, dass es eine schlechte Idee war, Hilena auf Estellas Veranstaltung zu begleiten. Als ich davon gehört habe, dass die Heilige ebenfalls eingeladen ist, dachte ich mir zuerst nichts dabei, da ich nicht erwartet habe, dass sie zusagen würde. Aber als Hilena mir voller Aufregung erzählt hat, dass sie kommen würde, wusste ich, dass ich dort nichts verloren habe.

Aber natürlich, als ich Hilena sagte, dass ich sie nicht begleiten könne, wurde sie wütend. Ich kann es ihr nicht verübeln, da wir uns in den letzten Wochen kaum gesehen haben und ich weiß, wie viel sie in diese Veranstaltung investiert hat. Sie bedeutet ihr viel und meine Erklärung, dem Ergebnis all ihrer Bemühungen fernbleiben zu wollen, enttäuschte sie.

Und sie war nicht die einzige, der meine Absichten missfielen. Meine Schwester lachte mich aus und mein Vater tadelte mich dafür, Angst vor der Heiligen zu haben. Dabei haben meine Beweggründe wenig mit Angst zu tun.

All das endete jedenfalls damit, dass ich Hilena entgegen meiner Vorsätze begleitet habe und hier bin ich nun und bereue es schrecklich.

»Hör auf, die Heilige als Vorwand zu benutzen! Du scherst dich doch sonst auch nicht darum, was andere von dir denken!« Hilena, die sich heute so sorgsam herausgeputzt hat, funkelt wütend zu mir auf.

Mein Versuch, mich davonzuschleichen, als die Ankunft der Heiligen angekündigt wurde, ist von Hilena vereitelt worden, die mich durchschaut hat und nun auf mich einredet. Ich hätte Hilena nicht erzählen sollen, dass ich eigentlich nicht hier sein will und dann doch herkommen.

»Die Heilige gehört nicht wirklich zu ‚anderen‘, denkst du nicht?«, frage ich etwas erschöpft, denn ich will nicht schon wieder streiten.

»Aber sie weiß, dass du auch eingeladen bist und wenn sie sich daran stören würde, wäre sie nicht gekommen. Immerhin ist ihre Anwesenheit für heute wichtiger als deine!«

»Wieso wolltest du dann so unbedingt, dass ich hier bin?«, erwidere ich gereizt.

Hilena beißt sich auf die Lippe und der verletzte Blick in ihren Augen lässt Schuldgefühle in mir aufsteigen.

»Ich habe dir schon gesagt, dass du tun kannst, was du willst. Ich hätte auch einen anderen Partner gefunden.« Ihre Antwort ist schnippisch und sie wendet den Blick ab, um in Richtung der Treppe zu sehen, die die Heilige gerade hinuntersteigt.

Ich weiß, dass es ihr wichtig ist, dass ich heute hier bin, aber anstatt mir das zu sagen, erpresst sie mich damit, sich einen anderen Partner zu suchen. Vielleicht ist es meine Schuld, weil ich ihr nicht genug Sicherheit gebe und unsere Verlobung nicht vorangeht. Aber manchmal denke ich, dass ich es bin, der etwas Sicherheit gebrauchen könnte. »Dann sollte ich mir das nächste Mal nicht die Mühe machen.«

Hilena reißt den Kopf herum, um mich wütend anzufunkeln. »Wie soll ich das verstehen?!«, faucht sie und ich bin hin- und hergerissen, zwischen meiner Wut und Bewunderung für den hübschen Ausdruck, auf Hilenas Gesicht. Mir gefällt das lebhafte Funkeln in ihren Augen, wenn sie wütend ist und ihre erhitzten Wangen. Es ist eine seltene Eigenschaft unter noblen Damen, Gefühle wie Wut so unverhohlen zu zeigen und es ist eine die ich an Hilena schon immer bewundert habe. Daher hat es mich auch nie gestört, dass wir uns oft streiten.

»Wie soll ich es verstehen, dass du mich einfach austauschst, wenn ich nicht tue, was du willst?«

»Was?!« Hilena bemüht sich darum, nicht die Stimme zu heben. »Willst du sagen, ich hätte allein kommen und mich zum Gespött machen sollen?!«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Ach nein?!«

Ich schnalze mit der Zunge. »Zum einen bin ich doch hier, oder?«

»Ja, und du wolltest dich gerade wegschleichen!«

»Nur, um deine Begrüßung mit der Heiligen nicht zu ruinieren.«

Hilena hebt drohend einen Finger, während sie sich näher zu mir beugt. »Tu nicht so, als ob du das für mich machen würdest. Ich weiß nicht, was du vorhast, das so viel wichtiger ist, dass du nicht einmal heute für mich da sein kannst, aber hör auf, mir irgendwelche Lügen über deine Angst vor der Heiligen zu erzählen!«

Meine Laune sinkt noch weiter. Sie glaubt mir nicht. Ich bin nur hier, weil ich verstehe, wie wichtig dieser Tag ist und versuche, ihr entgegenzukommen. Aber sie glaubt mir nicht einmal, dass ich einen echten Grund habe, aus dem ich nicht hier sein will. Vielleicht sollte ich einfach gehen. Es hat offenbar überhaupt keinen Sinn mit ihr zu reden und da sie sowieso wütend auf mich ist, würde es keinen Unterschied machen.

»Na gut, dann - «

»Lady Hilena.« Estellas Stimme unterbricht mich und als ich in ihre Richtung sehe, wird mir klar, dass ich zu lange gewartet habe. Denn Estella ist nicht allein.

Ich habe Dalton oft genug davon schwärmen hören, wie göttlich die Präsenz der Heiligen ist, aber während ich vor ihr stehe, fühle ich nichts göttliches. Es mag an meiner Einbildung liegen, da ich gar nichts von Ihrer Heiligkeit spüre, was zu erwarten ist, da sie einen gewaltigen Mana-Pool besitzen muss, aber es ist mehr als das.

Sie trägt einen Schleier über dem Kopf, der ihr Gesicht verhüllt und dessen goldbesetzter Saum bis über ihr Kinn hinabreicht und den Kragen ihres hochgeschlossen weißen Kleids bedeckt. Der schwere, goldbestickte Mantel der Heiligen verbirgt mit seinen langen Ärmeln ihre Hände, sodass kein Stück Haut zu sehen ist, und obwohl sein Saum über den Boden schleift, ist der weiße Stoff unberührt von jeglichem Schmutz.

Ich höre kaum, wie Hilena die Heilige begrüßt, denn obwohl Hilena spricht, werde ich das Gefühl nicht los, dass der Blick der Heiligen auf mich gerichtet ist.

In dem Versuch, das unheimliche Gefühl loszuwerden, das sich in mir breitmacht, sehe ich zu ihren Leibwächtern, nur um es zu bereuen. Eiskalte stahlgraue Augen starren auf mich herab und zum ersten Mal in meinem Leben habe ich das Gefühl zerquetscht zu werden, ohne das kleinste bisschen fremder Energie zu spüren.

Luke Pedellien, der Wächter der Heiligen und der einzige Templer, der ständig in ihrer Nähe ist. Obwohl ich mich nicht als klein bezeichnen würde, überragt mich dieser Mann um ein gutes Stück und es fühlt sich noch mehr an, weil ich weiß, dass sich mein Gesicht von jetzt auf gleich auf dem Boden befinden würde, sollte er es wollen. Und seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, will er es.

»...Jake Alistair, mein, ähm, Freund.«

Mein Name lässt mich aufhorchen und ich begreife, dass Hilena mich gerade vorstellt. Und ich kann mich nicht einmal darüber ärgern, dass sie mich so verhalten als ihren ‚Freund‘ vorstellt, als ich meinen Blick wieder auf die Heilige richte.

Ich weiß jetzt mit Sicherheit, dass sie mich ansieht und die Tatsache, dass ich ihr Gesicht nicht sehen kann, ist noch beunruhigender als zuvor. Aber ich verbeuge mich höflich. »Es ist schön, Euch kennenzulernen, Eure Heiligkeit.« Meine Stimme klingt schwach und ich wage kaum zu atmen, während ich auf die Antwort Ihrer Heiligkeit warte.

Und sie lässt sich Zeit. Ich kann praktisch fühlen, wie sie mich in Augenschein nimmt, und gleichzeitig ist es nervenaufreibend nicht zu wissen, was genau ihre Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt.

»Es gibt keinen Grund zur Sorge, Jake Alistair.« Die klare Stimme der Heiligen fühlt sich wie eine Erlösung an, gleichzeitig versteife ich mich unwillkürlich als sie meinen Namen sagt.

»Wir sind beide auf Einladung ihrer Hoheit hier und nicht, um eine Fehde auszutragen, ist es nicht so?«

Mir wird kalt.

»Ich bin froh, dass Ihr es so seht.« Estellas Stimme klingt erleichtert. »Es hätte mir zu schaffen gemacht, wenn meine Gästeliste Euch missfallen hätte.«

»Habe ich nicht gesagt, dass sie sich nicht an dir stören würde?! Du bist nicht einmal der Erbe deines Hauses!«, zischt Hilena mir zu, aber ich halte den Kopf unten. Wieso sind alle so erleichtert? Hat niemand verstanden, dass Ihre Heiligkeit mir gerade erklärt hat, dass sie mich als Feind betrachtet?

Mein Vater lässt keine Möglichkeit aus, mir zu erklären, dass die Heilige nicht die barmherzige Heilerin ist, wie es uns die Kirche glauben machen will. Das geht so weit, dass er einmal sogar behauptet hat, sie wäre eine Mörderin. Ich habe seine Worte nie richtig glauben können, weil ich weiß, wie sehr ihm daran liegt, die Heilige zu diskreditieren. Aber in diesem Moment begreife ich, dass es keine Rolle spielt, ob er recht hat oder nicht. Denn wenn es nicht stimmt, würde das bedeuten, dass mein Vater ein so schweres Vergehen begangen hat, das selbst die barmherzige Heilige ihm nicht vergeben kann.

Ich senke den Kopf. »Ich danke Euch.«



 

Ich atme erleichtert auf, als ich mich auf einer Bank abseits der Festivitäten niederlasse. Nachdem Hilena auf der Bühne Platz genommen hat, ist es einfach gewesen, sich wegzuschleichen. Da ich sowieso schon hier und auch noch der Heiligen über den Weg gelaufen bin, bleibe ich wenigstens bis ich Hilenas Rede auf der Bühne gehört habe. Ich glaube nicht, dass die Heilige sich unter die Zuschauer mischen wird, da sie auch sonst alle öffentlichen Veranstaltungen verlässt, nachdem sie ihren Teil getan hat. Aber im Moment brauche ich eine Pause.

Ich stütze die Ellbogen auf meinen Knien auf und vergrabe das Gesicht in den Händen. Es war naiv von mir zu glauben, dass die Angelegenheiten meines Hauses nichts mit mir zu tun hätten. Alles, was es mir gebracht hat, mich jahrelang fernzuhalten, war, dass ich jetzt keine Ahnung habe, was vor sich geht. Ich dachte immer, mein Vater kritisiert die Kirche dafür, ihre Macht auszunutzen und die Meinung der Bevölkerung mit der Heiligen zu beeinflussen. Etwas, das, wie ich keinen Zweifel habe, mindestens zu einem Teil stimmt. Aber soweit ich weiß, hat sich die Heilige aus dieser Diskussion herausgehalten, sodass ich eine Zeit lang dachte, sie würde sich nicht für Politik interessieren.

Aber mein Vater wäre nicht so fokussiert auf sie, wenn sie lediglich eine bedeutungslose Schachfigur der Kirche wäre. Und er hätte mich nicht ständig vor ihr gewarnt. Es hat mir verdeutlicht, dass die Heilige etwas tut oder getan hat, um meinen Vater in seine Schranken zu weisen, etwas das nicht an die Öffentlichkeit gelangt ist. Das war der Grund, weshalb ich der Heiligen nicht begegnen wollte. Ich weiß, dass es eine Geschichte zwischen ihr und meinem Vater gibt, aber da ich nicht weiß, worum es sich dabei handelt, wollte ich Ihrer Heiligkeit nicht gegenübertreten und riskieren, sie vor den Kopf zu stoßen. Es mag feige klingen, aber nach heute weiß ich mit Sicherheit, dass das die richtige Entscheidung gewesen wäre. Denn obwohl ich immer noch nicht weiß, was die Heilige getan hat, um meinem Vater so ein Dorn im Auge zu sein, verstehe ich, weshalb sie unabhängig von der Kirche zu seinem Ziel geworden ist. Er fürchtet sie.

Ich seufze. Hilena hat recht. Ich hätte mir in der Vergangenheit mehr Mühe geben sollen, anstatt mich vor allen mühseligen Aufgaben zu drücken. Dann wüsste ich jetzt vielleicht, wie ich es einordnen soll, dass die am meisten verehrte Frau des Königreichs mich nicht als Freund betrachtet.

Ein Schnauben kommt mir über die Lippen, als ich daran denke, wie oft Dalton von der Heiligen schwärmt und wie wenig ich mir bisher dabei gedacht habe, wann immer sie erwähnt wurde. »Ich hätte wirklich nicht kommen sollen«, murmle ich und lehne den Kopf in den Nacken, während ich daran denke, wie angenehm sorglos es doch ist, unwissend zu sein.

Ich sitze eine ganze Weile so da, den Kopf nach hinten über die Lehne der Bank gelegt, sehe in den Himmel hinauf und denke darüber nach, wie und ob ich Hilena davon erzählen soll, dass die Heilige, zu der sie als Heilerin aufsieht, mich mit großer Sicherheit hasst. Aber dann erregt eine Rauchwolke meine Aufmerksamkeit, die sich über dem Garten erhebt. Dem Teil in dem die Veranstaltung stattfindet.

Ich weiß, dass Estella eine Vorführung ihrer Künste als Feuermagierin geplant hat, aber dafür ist die Rauchwolke zu groß. Und wie ich meine Aufmerksamkeit darauf richte, höre ich aufgeregte Stimmen, die aus dieser Richtung stammen.

Das kann nichts Gutes bedeuten, denke ich und springe auf die Füße, um zurück zum Platz zu laufen. Und ich bin noch nicht weit gekommen, als mir ein junger Mann entgegenkommt. »Da seid Ihr ja, Sir Jake. Bitte kommt schnell! Es ist etwas schrecklich schiefgelaufen.«

Ich habe keine Ahnung, wer er ist, aber da ich sowieso vorhabe nachzusehen, was los ist, folge ich ihm. Nur um abrupt stehenzubleiben, als wir den Platz erreichen.

»Was zum - ?!« Ich weiß, dass Estella ein beeindruckendes kleines Feuerwerk geplant hat, aber mit der Betonung auf ‚klein‘. Wie kommt es, das der gesamte Garten in Flammen steht? Die Vorführung ist nicht einfach schiefgelaufen, jemand hat dafür gesorgt, dass sie in einem Desaster endet.

»Lady Hilena ist noch auf der Bühne!«, sagt der Mann, der mit mir hergekommen ist, plötzlich und mir wird mit einem Schlag eiskalt. Die Flammen sind um die Bühne herum am schlimmsten!

Warum bin ich nicht bei ihr geblieben? Ich verfluche mich für meine eigene Feigheit, während ich mich durch die Menge aus panischen Menschen dränge, die versuchen den Platz zu verlassen.

»Hier entlang!« Der Mann bedeutet mir, ihm zu folgen, und mit seiner Hilfe bahne ich mir einen Weg zur Bühne. Die Bühne ist von Flammen umgeben, aber der Mann macht eine Handbewegung und seine Aura drängt die Flammen zurück, sodass wir hindurch können.

Hilena sitzt noch immer auf ihrem Platz und sieht sich ängstlich um. Zum Glück scheint sie unverletzt und es sind keine Flammen in ihrer Nähe. Ich laufe trotzdem zu ihr. »Hilena!«

Hilena zuckt bei meinem Ruf zusammen und sieht in meine Richtung. Dann springt sie auf die Füße. »Jake! Wo warst du?!« Sie klingt erstaunlich vorwurfsvoll für jemanden, der so ängstlich aussieht.

»Tut mir leid«, murmle ich, als ich sie erreiche und ich ziehe sie an mich, während ich uns beide vorsorglich in einen Schild hülle. »Ich hätte hier sein sollen.«

»Hättest du«, gibt sie etwas beleidigt zurück, aber sie hält sich an meiner Jacke fest. »Ich weiß nicht, was los ist, aber Stella hat plötzlich die Kontrolle verloren. Und überall ist Feuer.«

Ich nicke, während ich mich nach dem Mann umsehe, mit dem ich hergekommen bin. Mir ist nicht aufgefallen, dass er mir nicht mehr folgt, aber ich brauche ihn, um uns wieder von der Bühne zu helfen.

»Tod der heuchlerischen Heiligen!«

Mein Blick zuckt zur Mitte der Bühne. Die Heilige steht dort, zusammen mit Eden, aber viel wichtiger ist, dass der Mann, mit dem ich gekommen bin, auf sie zurennt, einen Dolch in der Hand.

Nein. Die Luft ist plötzlich schwer, als ich begreife, was für einen gewaltigen Fehler ich gemacht habe. Wieso habe ich nicht einen Moment darüber nachgedacht, wie merkwürdig es ist, dass ein fremder Mann mich in diesem Chaos sucht, um mir zu helfen, Hilena zu finden? Obwohl ich wusste, dass etwas faul ist, wieso bin ich dem Mann blindlings zur Bühne gefolgt?

»Jake?!« Hilena, die ich immer noch im Arm halte, ruft meinen Namen, aber ich höre sie kaum. Mein Blick ist starr auf den Mann gerichtet, der sich auf Ihre Heiligkeit stürzt.

Ich muss etwas tun. Ich weiß, dass ich einschreiten muss, um zu zeigen, dass ich nichts mit diesem Mann zu tun habe, aber mein Körper ist wie festgefroren. Und alles geht so schnell.

Die Heilige stößt Eden beiseite, der Attentäter erreicht sie und dann knallt es. Mikail steht plötzlich dort, zwischen der Heiligen und dem Attentäter, den er mit seiner Aura zurückdrängt. Der Attentäter stolpert zurück und Mikail zieht die Heilige von ihm weg.

»Jake!« Hilena zerrt an meinem Kragen. »Wir müssen hier weg!«

Mein Blick huscht zu dem Attentäter, der noch immer auf die Heilige fixiert zu sein scheint. Aber dann sieht er in meine Richtung und als er bemerkt, dass ich ihn ansehe, dreht er sich um und rennt auf die Flammen zu, durch die er kurz darauf verschwindet.

»Jake!« Hilena packt mein Gesicht und zwingt mich, sie anzusehen.

»Du hast recht, aber wo -«

»Jake, hierüber!« Estellas Ruf übertönt meine Stimme und als ich zu ihr sehe, bemerke ich die Schriftrolle, die sie in der Hand hält.

»Komm.« Ich greife nach Hilenas Händen, die immer noch mein Gesicht umfassen, und ziehe sie mit mir auf Estella zu.

Estella sieht sich um, als wir uns im Wirkungsbereich der Schriftrolle befinden und dann aktiviert sie sie.

Ich registriere noch, dass Mikail mit der Heiligen und Eden in der Nähe steht, sowie Dalton mit Annie, bevor ich zu Boden geschleudert werde. Es ist das erste Mal, dass ich eine Teleportationsschriftrolle benutze und ich wusste nicht, dass es so unangenehm ist.

Hilena, deren Hand ich noch immer halte, liegt vor mir und ich stütze mich trotz des Schmerzes in meiner Schulter, auf die ich gefallen bin, hoch, um sie zu fragen, ob es ihr gut geht. Aber in diesem Moment stößt Hilena einen Schrei aus.

Anders als ich ist sie auf dem Rücken gelandet und ihre weit aufgerissenen Augen sind auf etwas gerichtet, dass sich zu meiner Linken befindet.

Ich reiße den Kopf herum und mir gefriert das Blut in den Adern. Direkt vor Hilena befindet sich ein Bein von der Größe eines Baumstammes. Sogar die gelbliche Haut wirkt so dick und rau, als könnte sie Rinde sein.

Ich halte den Atem an, während ich meinen Blick höher wandern lasse und ich schwöre, dass der Boden bebt, als sich das Bein in unsere Richtung dreht. Ein schmuddeliges Stück Leder bedeckt den Oberkörper und die Oberschenkel und in der gewaltigen Faust befindet sich ein Ast, der gut und gern einmal der Stamm eines kleineren Baums gewesen sein kann.

Mein Blick erreicht den Kopf des Monsters und begegnet einem Paar schwarzer Augen. Ich erkenne das klobige Gesicht mit dem breiten Kiefer und den buschigen Haaren von den Zeichnungen aus Büchern über Monster wieder. Es ist ein Bergtroll, eines der größten und gefährlichsten Monster, dem man das Pech haben kann, über den Weg zu laufen, und in diesem Moment, der sich eigenartig lang anfühlt, frage ich mich, wie es jemand bewerkstelligen konnte, das Gesicht dieses Monsters im Detail zu zeichnen und es zu überleben.

Dann höre ich plötzlich eine Stimme und einen darauffolgenden Knall.

Der Kopf des Bergtrolls zuckt und er schaut über mich hinweg zu dem Ursprung des Geräuschs. Aber als ob das keine Bedeutung hätte, kehrt sein Blick wieder zu mir zurück und er hebt seine Hand. Es ist die, mit der er nicht den Ast hält, und während er sich zu mir herunterbeugt, geht mir durch den Kopf, dass seine Hand groß genug ist, um meinen Oberkörper zu umfassen.

Hilena wimmert und ich ziehe sie zu mir, während ich all meine Aura in einen Schild stecke. Es wird nicht stark genug sein, um den Troll aufzuhalten, aber wenn ich mich im letzten Moment zur Seite rolle, und ihn überrasche, haben wir eine Chance.

Ich schiele nach oben, während ich Hilena an mich presse, und sehe, wie die Hand des Trolls innehält. Zuerst denke ich, dass er es sich anders überlegt hat, aber dann gibt er ein Geräusch von sich und seine Hand bewegt sich schnell vor und zurück, als würde er sie gegen eine unsichtbare Wand schlagen, die sich zwischen uns befindet. Und dann geht er in die Knie.

Die Erde bebt und der Troll gibt einen jaulenden Laut von sich, während er sich windet, als würde er von etwas zu Boden gedrückt. Sein Blick zuckt erneut an mir vorbei und er schüttelt seinen Kopf und jault ein weiteres Mal.

Ich folge seinem Blick und ich weiß sofort, was er ansieht.

Hinter mir steht die Heilige in ihrem weißen Mantel, der nach wie vor unberührt von Schmutz ist, als wäre sie nicht unsanft zu Boden geworfen worden. Sie sieht nicht in meine Richtung und das weiß ich, weil ihr Schleier fehlt.

Es gibt viele Mutmaßungen darüber, wie das Gesicht der Heiligen aussieht, da sie es stets verbirgt. Trotzdem gilt sie als die schönste Frau des Königreichs, was, wie mein Vater oft genug betont hat, nur ein Gerücht der Kirche ist. Und ich war bereit, ihm zu glauben, da er ihr Gesicht einmal gesehen hat und seine Argumentation in diesem Punkt schlüssig schien. Aber in diesem Moment frage ich mich, ob mein Vater mich auch hier belogen hat. Das oder er ist blind.

Heiler sind dafür bekannt, schön zu sein, aber Ihre Heiligkeit sieht aus, als wäre sie einem Gemälde entsprungen. Ihr Haar, das ihr in geschmeidigen Wellen über den Rücken fällt, ist von einem so tiefen Braun und funkelt trotz des trüben Lichts, als wäre es so wertvoll wie die Goldfäden, die in es hinein geflochten sind. Ihre Haut ist blass, aber so eben und rein wie frisch gefallener Schnee. Sie hat volle, geschwungene Lippen, eine kleine gerade Nase und große, von dunklen Wimpern umrahmte Augen von einem so strahlenden Blau, dass sie den Himmel in den Schatten stellen könnten. Ihre dunkeln Brauen verleihen ihren edlen Gesichtszügen eine gewisse Schärfe, die durch ihren missbilligenden Ausdruck verstärkt wird, während sie die Situation beobachtet.

Ich kann ihre Energie nicht spüren, aber ich weiß, dass sie den Troll auf den Boden drückt. Mehr noch, sie drückt auch die anderen Trolle, die ich erst jetzt bemerke, zu Boden, mit nichts weiter als ihrem rohen Mana, dass sie so kontrolliert, dass es nur die Trolle berührt. Ich höre, wie sie Ächzen und Jaulen und aus dem Augenwinkel sehe ich Licht aufleuchten, aber ich bin nicht in der Lage den Blick von Ihrer Heiligkeit zu nehmen.

Denn während ich und alle anderen hilflos am Boden liegen, hat die Heilige nur eine leichte Stirnrunzel auf dem Gesicht, als wäre diese Situation lediglich ein Ärgernis, das zwar lästig, aber nicht weiter problematisch ist.

Mir geht durch den Kopf, wie ich Mikail und sein Talent für Aura bewundert habe, oder wie wir zu Daltons Onkel, dem Oberhaupt der Wache der Moraens, aufgesehen haben und mir wird klar, dass ich nie auch nur im Ansatz verstanden habe, was es bedeutet, Gottes Macht zu besitzen.

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