Tod der Heiligen

IV.

»Was soll das heißen, wir sind in Sotton?«, ruft Eden und ich schließe bei seiner unangenehm lauten Stimme die Augen, bemüht darum, nicht das Gesicht zu verziehen.

»Aber das ist unmöglich!«, sagt nun auch Estella. »Der Palast, wir sollten im Palast sein!«

Dort sind wir offensichtlich nicht. Ich öffne die Augen wieder und sehe Estella an. »Entschuldigt mich für einen Moment, Euer Hoheit«, sage ich und strecke die Hand nach ihr aus.

Sie sieht verwirrt zwischen mir und meiner Hand hin und her, aber sie zuckt nicht zurück, als ich meine Finger auf ihre Stirn lege.

Der Verwirrungszauber wurde von einem schwächeren Magier als mir gewirkt und ist im Grunde leicht zu entfernen. Aber Zauber, die das Gehirn betreffen, sollten grundsätzlich mit Vorsicht behandelt werden, wenn es einem daran liegt, das Ziel nicht zu schädigen. Daher löse ich den Debuff über Körperkontakt.

Als ich die Hand wieder senke, sieht Estella noch immer verwirrt aus, als wüsste sie nicht, weshalb ich ihre Stirn berührt habe.

»Ihr unterlagt einem Verwirrungszauber, Euer Hoheit«, sage ich, während ich mir das Mana des Zaubers gut merke. Zuvor hat es mich nicht wirklich gekümmert, weil das Chaos, für das Estella wegen des Verwirrungszaubers gesorgt hat, mir von Nutzen war. Aber jetzt befinde ich mich dank dieses hinterhältigen Bastardes, der von einem alten Sack angeheuert wurde, der sich in die Hose macht, nur weil die Prinzessin entschlossen hat, sich in ein Zündholz zu verwandeln, in einer sehr unangenehmen Lage. Entgegen meines ursprünglichen Vorsatzes mich aus der Sache herauszuhalten, werde ich sowohl den Bastard als auch den alten Sack finden und ihnen zeigen, dass es schlimmere Debuffs gibt als Verwirrungszauber.

»E-Ein …. was?« Estella starrt mich entgeistert an. »Ich verstehe nicht, wer …?«

»Heißt das, der Grund weshalb Stellas Magie die Zuschauer angegriffen hat, war ein Verwirrungszauber?« Mikail, der noch immer das Mädchen im Arm hält und ihr den Kopf streichelt, sieht mich an und Wut funkelt in seinen Augen.

Ich nicke.

Estella vergräbt das Gesicht in den Händen. Dabei gibt es jetzt wichtigeres, als einer verpatzten Vorstellung nachzuweinen.

Ich stehe auf. Oder versuche es zumindest, denn sobald ich mich aufrichte, beginnt sich alles zu drehen und ich taumle. Es ist nicht ungewöhnlich, dass das passiert, wenn meine Debuffs aktiv sind, und normalerweise ist es kein Problem, weil Luke mich auffängt. Aber Luke ist nicht hier.

»Eure Heiligkeit!« Ich weiß nicht, wer das ruft, aber der Gedanke, dass ich von Eden aufgefangen werde, der mir am nächsten war, lässt mich meine Debuffs entfernen. Es ist trotzdem schwer, mein Gleichgewicht wiederzufinden, aber bevor Eden mich berühren kann, umgibt mich eine sanfte Aura.

Da mein Kopf noch immer brummt, hätte ich sie beinah reflexartig mit meinem Mana zerdrückt, aber ich halte mich gerade rechtzeitig davon ab und lasse zu, dass sie mich wieder aufstellt.

Eden, der bereits die Arme ausgestreckt hat, um mich aufzufangen, macht ein verdutztes Gesicht, als ich scheinbar von allein, einen festen Stand finde.

Ich sehe Mikail an. »Ich danke Euch«, sage ich und muss dann husten, weil ich meine Debuffs erneuere. Es ist nervig, aber ich trage meinen Schleier nicht und es ist wichtig, dass ich blass und kränklich aussehe.

Die Aura zieht sich zurück. »Geht es Euch gut?« Mikail steht ebenfalls auf und mustert mich besorgt.

»Natürlich, ich bin nur zu schnell aufgestanden. Verzeiht.« Ich schenke ihm ein Lächeln, bevor ich erneut huste. Ich bin erschöpft und der Gedanke, dass ich meine Debuffs von nun an ununterbrochen aufrechterhalten muss, ist nicht gerade ermutigend.

»Du musst dich ausruhen, Lorelai, hier nimm meinen Arm.« Eden greift bereits nach meinem Unterarm, aber ich weiche aus. »Vielen Dank, Euer Hoheit, aber ich will Euch keine Umstände machen. Ihr müsst ebenfalls erschöpft sein.« Ich lächle ihn an, was ihn davon abhält mir sofort zu widersprechen. Ich brauche unbedingt meinen Schleier wieder.

Aber gerade als ich mich danach umsehen will, tritt der Mann, dessen Name ich nicht kenne, neben mich.

»Ähm, Eure, ähm, ich habe … Euer Schleier ist … das … ähm …« Er ist etwas breiter als Mikail, obwohl seine Aura schwächer ist und es ist ein befremdlicher Anblick, zu sehen, wie er panisch etwas Unverständliches stammelt und dabei einen feinen Spitzenschleier ehrfürchtig in den ausgestreckten Händen hält. Er scheint noch jemand zu sein, den ich nur mit Schleier ertrage.

»Vielen Dank!« Ich lächle und nehme den Schleier, woraufhin das letzte bisschen Klarheit aus seinen Augen verschwindet und ihm der Mund offenstehen bleibt.

Ich lege den Schleier über den Kopf und wende mich ab. Ich verstehe bis heute nicht, weshalb insbesondere Männer sich in Idioten verwandeln, sobald sie mein Gesicht sehen. Es ist unglaublich leichtsinnig, sich von etwas so Oberflächlichem ablenken zu lassen. Und das gilt in meinem Fall ganz besonders.

»Sei nicht unvernünftig, Lorelai.« Eden folgt mir. »Ich versuche, dir zu helfen.«

Ich verdrehe die Augen und gehe so schnell es geht, auf den nächsten Baum zu.

»Warte!«

Ich lasse mich zu Boden sinken, den Rücken zum Baum.

Eden erreicht mich und geht vor mir in die Hocke, aber seine Hand, die er nach mir ausstreckt, stößt gegen meinen Schild. »Lorelai?!«

Aber ich ignoriere ihn, sinke gegen den Baum und tue so, als wäre ich ohnmächtig geworden.

»Was zur Hölle soll das?!«, schimpft Eden leise, bevor ich höre, wie er sich aufrichtet. »Lorelai ist erschöpft«, sagt er mit lauter Stimme. »Ihre körperliche Verfassung lässt es nicht zu, dass sie sich verausgabt.«

Warum sagt er etwas, das jeder weiß?

»Wisst Ihr, ob wir etwas tun können, um ihr zu helfen?« Das ist Mikails Stimme.

»Nein, nein. Sie muss sich nur ausruhen.«

Ich beschließe die Stimmen auszublenden. Die Situation ist denkbar ungünstig für mich und ich muss überlegen, wie ich weiter vorgehe. Die Entfernung von Libera ist nicht das Problem. Ich kann zwar nur über kurze Distanzen teleportieren, aber ich würde es dennoch in ein paar Tagen zurückschaffen. Dazu müsste ich aber zuallererst einen Weg finden, den adligen Ballast loszuwerden.

Als Heilige kann ich ihnen nicht einfach sagen, dass sie ihrer Wege gehen sollen. Und selbst wenn, wäre es nicht zu erklären, wie ich so schnell wieder in Libera bin. Zumal die anderen ohne mich schon tot wären, was bedeutet, sie werden die Reise allein nicht schaffen. Und dann müsste ich Verantwortung dafür übernehmen, sie allein gelassen zu haben.

Auf der anderen Seite, wieso sollte ich? Niemand weiß, dass ich auch in Sotton gelandet bin. Ich könnte sagen, ich wäre an einem anderen Ort gelandet und Estellas Verwirrungszauber die Schuld geben. Daran wird niemand zweifeln können, wenn ich eine Strecke, die eigentlich nur in mehreren Wochen zurückgelegt werden kann, in wenigen Tagen schaffe. Natürlich müsste ich sichergehen, dass meine Begleiter auch wirklich sterben.

»Eure Heiligkeit?«

Ich öffne die Augen und sehe in das Gesicht von Mikail Moraen, der vor mir auf dem Boden kniet.

»Verzeiht, dass ich Euch störe, aber es ist wichtig.« Er mustert mich abwartend und ich bemerke, dass die anderen hinter ihm stehen und zuhören.

Ich weiß nicht, was sie zuvor besprochen haben, aber sie scheinen zu einer Einigung gekommen zu sein. Mein Blick bleibt an Estella hängen. Ich dachte, sie hätte geweint, aber ich sehe keine Spuren davon und der Blick in ihren Augen wirkt eher entschlossen als verzweifelt.

»Eure Heiligkeit? Seid Ihr wach?«

Ich richte meinen Blick wieder auf Mikail. Er hat die Augen leicht zusammengekniffen und mustert mich angestrengt, was mich daran erinnert, dass ich meinen Schleier trage und er mein Gesicht nicht sehen kann.

Einen Moment überlege ich, ob ich ihn einfach ignorieren soll, aber ich habe nicht das Gefühl, dass mir das viel bringen würde. »Ich bin wach«, sage ich und lasse meine Stimme kratzig klingen, so als wäre ich es nur gerade so.

»Verzeiht mir. Ich weiß, Ihr müsst müde sein und ich bedaure, dass wir uns in einer Situation befinden, in der Euch keine Ruhe erlaubt ist.« Er hat eine sehr umständliche Art zu sprechen. Und es ist nicht die Situation, die mir keine Ruhe erlaubt, sondern er.

»Ihr müsst Euch nicht entschuldigen.« Komm zum Punkt.

Mikail legt die Stirn in Falten. »Eure Heiligkeit, vorhin sagtet Ihr, wir sind in Sotton. Woher wisst Ihr das?«

Oh, denke ich, als mir klar wird, dass ich unvorsichtig war. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, wo wir sind, und trotzdem habe ich selbstsicher erklärt, dass wir in Sotton sind. Und offensichtlich gehört Mikail Moraen zu der Sorte Mensch, die der Heiligen nicht blind jedes Wort glaubt.

»Ich habe gebetet und es in einer Vision gesehen«, antworte ich mit ehrfürchtiger Stimme. Die Existenz des Weltstroms ist allgemein umstritten, weil ihn kaum jemand spüren kann und dass soll so bleiben, damit niemand herausfindet, dass ich nie irgendetwas von Gott bekommen habe.

Aber obwohl ich die Heilige bin, macht Mikail ein skeptisches Gesicht.

Ich bin ein wenig amüsiert, dass er nicht so dumm ist, wie ich dachte. »Etwa 500 Meter südlich von hier fließt der Ilas. Wenn wir ihm folgen, kommen wir in ein paar Tagen in der Stadt Anui an.«

Mikail blinzelt. »Ich wollte nicht andeuten, dass ich Eure Worte anzweifle. Aber ich mache mir Sorgen.«

Ich runzle die Stirn, als er bei den letzten Worten mich ansieht, als wolle er sagen, er mache sich Sorgen um mich.

»Der Weg ist weit und wir haben weder Kutsche noch Pferde. Ich mache mir Sorgen um Eure Gesundheit, Eure Heiligkeit.«

Er hat nicht unrecht, da ich als Lorelai kaum 100 Meter laufen kann, ohne das mir schwindelig wird, aber das kann ich ausnutzen und sie davon überzeugen, mich im nächsten Dorf zurückzulassen. »Ich werde es überleben. Schließlich bleibt uns keine andere Wahl.« Ich lächle, nur um dann zu erstarren. Überleben? Mein ursprüngliches Ziel war es, meinen Tod vorzutäuschen, also wieso denke ich nur darüber nach, wie ich so schnell wie möglich nach Libera zurückkehren kann. Anstatt Mikail und die anderen sterben zu lassen, sollte ich ihnen helfen, zu überleben, damit sie, wenn sie nach Libera zurückkehren, von meinem Tod berichten können. Immerhin sollte es einfach sein, sieben naiven Adligen eine dramatische Szene vorzuspielen, die sie glauben werden.

»Seid Ihr sicher?«

»Habt Ihr einen besseren Vorschlag?« Ich entferne meinen Schild und stehe auf. Langsam diesmal, sodass ich nicht taumle.

Trotzdem steht Mikail ebenfalls sofort auf und ich spüre, wie er seine Aura bereit macht.

»Für heute wäre es wohl das Beste, einen Ort zu finden, an dem wir die Nacht verbringen können«, sage ich und versuche zu ignorieren, dass mich alle anstarren, als würde ich gleich zusammenbrechen.

»Sagtet Ihr nicht Ihr kennt die Umgebung, Eure Heiligkeit?«, fragt Estella. »Dann müsstet Ihr doch wissen, wo sich das nächste Dorf befindet.«

Ich sehe sie an. Sie sagt es nicht höhnisch oder so als würde sie mir nicht glauben, sondern als wäre sie ernsthaft verwirrt. »Hier in der Nähe des Gebirges gibt es viele Monster mit hohem Rang, deswegen gibt es hier keine Dörfer.«

Estella blinzelt. »Das heißt, wenn Ihr sagt, Ihr wollt einen Ort finden, an dem wir die Nacht verbringen können, meint Ihr …«

»Einen Ort im Freien, richtig.«

Estella macht ein so entgeistertes Gesicht, dass ich beinah lachen muss. Für eine Prinzessin ist es wohl völlig abwegig, im Freien zu schlafen, und es wird noch zusätzlich unangenehm für sie sein, da wir weder Decken noch sonst etwas dabei haben, das Komfort bietet.

»Wir schaffen das schon.« Mikail legt Estella eine Hand auf die Schulter und lächelt sie an.

Und Estella verzieht, sehr zu meiner Überraschung, wütend das Gesicht. »Wenn wir zurück in Libera sind, werde ich herausfinden, wer mich mit einem Verwirrungszauber belegt hat und ihn dafür bezahlen lassen!«

Oho, denke ich anerkennend, als Estella mir mit einem Mal sehr viel sympathischer ist.

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