Tod der Heiligen

VI.

»… und dann hat er ihr vor allen ein Geständnis gemacht! Es war so romantisch!« Annabella presst die Hände vor der Brust zusammen, mit vor Aufregung geröteten Wangen und einem Strahlen auf dem Gesicht.

Sie erzählt mir gerade von einem Buch, das sie gelesen hat, und da ich weiß, dass Luci auch sehr gern liest, dachte ich, sie könnte mir eine Empfehlung geben, da ich von Unterhaltungsliteratur keine Ahnung habe. Allerdings sind Annabellas Erklärungen über den Inhalt ihres Lieblingsbuchs sehr ausschweifend.

»Die Prinzessin und ihre Freundinnen konnten nichts tun, außer in Neid zu versinken. Diese Szene ist meine absolute Lieblingsszene, weil es so befriedigend ist, wenn die Prinzessin endlich einsieht, dass sie nicht geliebt wird.« Annabella lacht freudig auf und es scheint mir, sie freut sich mehr über das Unglück dieser Prinzessin als das Glück des Hauptcharakters.

Ich lächle Annabella an und nicke. »Ich verstehe.« Absolut nichts. Wenn die Geschichte, die sie beschreibt, auch nur dem Leben eines durchschnittlichen Adligen ähnelt, kann ich nicht glauben, wie kleinlich und bedeutungslos sie sind. Die ganze Geschichte geht darum, dass der Prinz eines Königreichs sich auf der Suche nach einer Braut im Nachbarkönigreich in eine Baroness verliebt und nicht in die Prinzessin. Alles beginnt damit, dass der Prinz beobachtet, wie die Baroness von der Prinzessin gedemütigt wird und einschreitet. Danach ist er besessen von der Baroness, was ihre Situation noch schlimmer macht und ich verstehe nicht, weshalb sie es sich am Ende antut, ihn zu heiraten. Zumal es sich für mich nach einem ernsthaften politischen Problem anhört, wenn ein Prinz eine Heirat mit der Prinzessin eines anderen Königreichs aus persönlichen Gefühlen ablehnt.

Annabella ist so in ihre Erzählung vertieft, dass sie nicht bemerkt, wie Estella und Hilena aus dem Wald zurückkommen, beide jeweils mit einigen Ästen im Arm.

»Annie?« Estella kommt zu uns, nachdem sie ihre Äste abgelegt hat und Hilena folgt ihr. »Worüber redest du so außer dir?«

»Oh, Stella!« Annabella strahlt zu Estella hinauf. »Ich erzähle Ihrer Heiligkeit von Die Schönheit einer unschuldigen Blume

Sogar der Titel klingt komisch für mich und ich frage mich, ob Luci das Buch gefallen würde.

»Kannst du dir vorstellen, dass sie noch nie davon gehört hat?«

»Oh.« Estella sieht mich an und wirkt plötzlich etwas unbehaglich. »Ich weiß nicht, ob diese Art der Unterhaltung dem Geschmack Ihrer Heiligkeit entspricht.«

Annabella blinzelt und die Aufregung auf ihrem Gesicht verblasst. Sie macht ein verunsichertes Gesicht, als sie zu mir sieht.

»Das weiß ich auch nicht, da sie mir fremd ist«, antworte ich mit einem gelassenen Lächeln. »Aber es ist interessant. Meine Schwester liest auch sehr gern, aber sie erzählt mir nie davon, daher war ich neugierig.«

Annabellas Miene hellt sich wieder auf und sie sieht zu Estella.

Estellas Blick ist weiter auf mich gerichtet und sie scheint jetzt überrascht. »Lest Ihr keine Bücher?«

»Doch, aber ich fürchte, meine Bibliothek bietet keine Auswahl an Fantasiegeschichten.«

»Oh, das tut mir leid für Euch. Es ist ein großartiger Zeitvertreib.«

»Lest Ihr, Euer Hoheit?«

Estella nickt. »Tatsächlich ist Die Schönheit einer unschuldigen Blume auch eins meiner Lieblingsbücher.«

Ich blinzle.

»Stella hat es mir empfohlen«, sagt Annabella.

»Das stimmt. Annie und ich haben denselben Geschmack, was Bücher angeht. Anders als Hilena.« Estella lächelt ihre Freundin an, die die Augen verdreht. »Nur weil ich den Prinzen als Figur zu unrealistisch finde. Solche Männer existieren einfach nicht.«

»Doch. Ich bin mit einem verlobt«, erwidert Estella und ihr Lächeln wird breiter.

»Mikail zählt nicht!«

Ich lächle stumm weiter, da ich mit der Unterhaltung überhaupt nichts anfangen kann. Wenn Mikail Moraen wie der Prinz aus der Geschichte ist und einen Krieg riskieren würde, weil er verliebt ist, verstehe ich nicht, weshalb die drei so glücklich darüber sind.

»Eure Heiligkeit, stimmt es, dass Ihr nicht heiraten dürft?«, fragt Annabella plötzlich und ich sehe sie überrascht an. Auch Estella und Hilena unterbrechen ihre Unterhaltung, um Annabella anzusehen.

»Ja«, antworte ich etwas verdutzt, da das eine allgemein bekannte Tatsache ist.

»Ist das nicht unfair?« Annabella macht ein betrübtes Gesicht.

»Findet Ihr?« Es gibt viel in meinem Leben, das unfair ist, aber die Tatsache, dass ich als Heilige nicht heiraten und nur minimalen Kontakt zu Männern haben darf, war für mich immer eher ein Segen als ein Fluch. Eden ist der beste Beweis dafür.

»Ja! Wollt Ihr denn nicht auch eine Familie gründen? Oh, Eure Kinder wären bestimmt so schön wie Ihr.«

»Annie!« Estella legt ihr eine Hand auf die Schulter und sieht sie mit einem warnenden Blick an, bevor sie mir ein scheues Lächeln schenkt. »Vergebt Ihr, sie hat es nicht böse gemeint.«

»Ich weiß«, erwidere ich, da ich nicht verstehe, was mich daran beleidigen soll. Es kommt selten genug vor, dass jemand überhaupt bemerkt, wie unfair es ist, dass ich so viele Dinge nicht tun darf, nur weil ich die Heilige bin. Zumal das meistens genau die Dinge sind, die das Leben lebenswert machen. Alkohol, Fleisch, laute Musik und unflätiges Benehmen, um nur mal ein paar davon zu benennen. »Ich danke Euch, für Eure Sorge, Lady Annabella, aber es ist in Ordnung, so wie es ist.«

Annabella lässt die Schultern hängen. »Ich dachte nur, ich weiß, wie es ist, wenn man etwas ganz Normales nicht haben kann.«

»Was meinst du?« Estella geht neben Annabella auf die Knie. »Du kannst alles haben, was du willst.«

Annabella schüttelt den Kopf. »Wie könnte ich an eine Verlobung denken, wenn ich jeden Moment sterben kann?«

Estella erbleicht. »Sag so etwas nicht. Du wirst nicht sterben. Hilena ist hier und Ihre Heiligkeit auch. Wir finden einen Weg, sodass du gesund bleibst, bis wir wieder in Libera sind.«

Ein Grinsen breitet sich auf Annabellas Gesicht aus. »Ich weiß. Ihre Heiligkeit hat mich schon geheilt.«

Estella erstarrt. »Was sagst du?« Ihr Blick huscht zu mir, aber mir ist gerade ein Gedanke gekommen. Wieso habe ich nicht daran gedacht, dass ich kein Attentat brauche, um meinen Tod vorzutäuschen? Alle Welt glaubt, dass ich krank bin. Ich muss einfach ein bisschen Blut husten und mir eine herzzerreißende Geschichte ausdenken, dass ich nicht mehr lang zu leben habe. Dann wäre es auch nicht mehr so abwegig, wenn ich von einem schwachen Monster getötet werde, solange ich im richtigen Moment einen Schwächeanfall habe.

Ein Lächeln erscheint ganz von allein auf meinen Lippen, als ich Annabella im Stillen danke. Allerdings komme ich nicht dazu, Estella zu antworten, da Mikail und die anderen nun ebenfalls zurückkehren, und ich ziehe stattdessen meinen Schleier wieder über mein Gesicht.

»Mika!« Annabella springt auf die Füße und rennt ihrem Bruder entgegen.

»Sei vorsichtig, Annie, was, wenn du – uwah!« Mikail strauchelt, als Annabella sich ihm ohne zu Bremsen in die Arme wirft und ihn umreißt. Er benutzt seine Aura, um den Sturz zu dämpfen, aber er landet auf dem Hosenboden, mit ihr auf dem Schoß.

»Geht es dir gut? Seit wann bist du so stark?« Mikail umfasst Annabellas Gesicht und mustert sie eingehend.

Annabella kichert vergnügt. »Seit Ihre Heiligkeit mich geheilt hat!«

Mikails Augen weiten sich und er sieht zu mir.

»Ich habe sie nicht geheilt, ich habe ihr nur meinen Segen gegeben«, verbessere ich Annabella.

Er starrt mich weiterhin an. »Nur?«, wiederholt er mit tonloser Stimme.

»Annie, lass mich dich untersuchen.« Hilena eilt auf Annabella zu und nimmt ihre Hand. Sie schließt die Augen. »Unglaublich«, murmelt sie dann und die Augen, die zuvor auf mich gerichtet waren, richten sich auf sie.

»Dein Körper ist völlig gesund, mehr als gesund. Er ist vergleichbar mit einer Aura-Trägerin in deinem Alter.«

Eine Aura-Trägerin, die ihre Aura nicht ausbildet vielleicht, denke ich, denn ich habe mir nicht allzu viel Mühe mit dem Segen gegeben.

»Ich kann das Mana natürlich nicht spüren, aber durch Euren Segen ist Annie nicht mehr auf einen Heiler angewiesen, der sie mit Mana versorgt, ist es nicht so?« Hilena sieht zu mir und ihre Augen sprühen vor Bewunderung.

Ich nicke.

»Wie üblich bist du zu sanftmütig, Lorelai!« Eden kommt auf mich zugestampft, um mit tadelndem Blick auf mich herabzusehen. »Du solltest dich ausruhen! Es ist lieb, dass du der kleinen Annabella geholfen hast, aber was, wenn du jetzt zu erschöpft bist, um die Barriere aufrechtzuerhalten?«

»Darum müsst Ihr Euch keine Sorgen machen. Ich habe noch genug Mana übrig«, erwidere ich unbeschwert.

»Aber ich verstehe das nicht.« Mikail, der nun wieder auf den Füßen steht, sieht mich noch immer ungläubig an. »Ihr sagtet doch, dass Ihr nichts für Annie tun könnt.«

Ich lege verwirrt den Kopf schief. »Wann habe ich das gesagt?«

»In dem Brief, den Ihr uns geschrieben habt, nachdem wir Euch um Hilfe gebeten haben.«

Ich blinzle. »Ihr habt mir einen Brief geschrieben?«

»Ja, es ist schon ein paar Jahre her. Erinnert Ihr Euch nicht?«

Ich rümpfe leicht die Nase. Niemals hätte ich es vergessen, wenn ich einen Brief von einem Moraen bekommen hätte. »Ich habe nie einen Brief von Euch erhalten«, erwidere ich und stehe nun ebenfalls auf. Es überrascht mich nicht wirklich, dass jemand in meinem Namen Briefe verschickt und ich bin mir fast sicher, dass der Hohepriester davon weiß, wenn er nicht sogar dafür verantwortlich ist. Was mich aber wundert ist, dass er der Tochter der Moraens meine Hilfe verwehrt hat. Haus Moraen ist nicht nur mächtig, ich weiß, dass der Hohepriester einmal eng mit ihm in Verbindung stand.

»Aber das kann nicht sein. Wir haben einen Brief von Euch erhalten.« Mikail sieht mich noch immer entgeistert an und ich gehe zu ihm und halte ihm meine Hand hin. »Hat der Brief dieses Siegel getragen?«, frage ich und Mikail beugt sich etwas zu meiner Hand hinunter, um den Ring an meinem Finger in Augenschein zu nehmen. Seine Brauen ziehen sich zusammen. »Nein.«

Ich lasse die Hand sinken. »Dann war er nicht von mir.«

Sein Blick richtet sich wieder auf mich. »Wollt Ihr damit sagen, dass jemand Briefe in Eurem Namen verschickt?«

Ich zögere. Seine geschockte Reaktion ist verständlich, aber ich sehe keinen Sinn darin, jetzt darüber zu diskutieren. Ich unterdrücke ein Seufzen und neige den Kopf. »Da ich nichts darüber weiß, kann ich es nicht sagen. Aber ich hoffe, der Segen, den ich Lady Annabella gegeben habe, hilft Euch, darüber hinwegzusehen.«

Mikails Blick ist starr auf mich gerichtet, als versuche er, so gut es geht durch den Schleier zu sehen. »Es liegt mir fern, Euch etwas vorzuwerfen und natürlich bin ich Euch dankbar für den Segen.« Er verneigt sich, aber seine Miene ist steinern.

Ich würde raten, dass er der Sache auf den Grund geht, sobald er nach Libera zurückkehrt, aber wenn alles gut läuft, braucht mich das nicht zu kümmern. Mein Blick huscht an Mikail vorbei zu Jake und Dalton, die beide ein paar Stöcke tragen, auf denen Fische aufgespießt sind. »Wie ich sehe, habt Ihr etwas zu essen gefunden«, sage ich, auch wenn ich als Heilige keinen Fisch essen darf.

Mikail folgt meinem Blick. »Oh, ja, wir haben leider keine Möglichkeit gefunden, Wasser zu transportieren, aber - «

»Hier Lorelai.« Eden steht plötzlich neben mir, mit einem eigenartig stolzen Ausdruck auf dem Gesicht. In der Hand hält er ein Taschentuch, in dem eine Handvoll rote Beeren gesammelt wurden. »Da du keinen Fisch essen kannst, habe ich etwas anderes für dich gefunden.«

Ich sehe auf seine Hand hinab. In einer Ecke des Taschentuchs sind die Initialen M.A.M. hineingestickt worden. Ich richte meinen Blick auf Mikail. »Vielen Dank, my Lord. Ich hoffe, es hat Euch keine zu großen Umstände gemacht.«

Mikail blinzelt verdutzt.

»W-Wieso bedankst du dich bei ihm?!«, empört sich Eden und ich richte meinen Blick wieder auf ihn. 

»Es ist sein Taschentuch«, sage ich schlicht und obwohl Eden meine Augen kaum sehen dürfte, weicht er meinem Blick aus.

Auch ohne das Taschentuch hätte ich erraten, dass es Mikail war, der die Beeren für mich gesammelt hat. Immerhin ist seine Kleidung nicht nur nass, sondern auch mit Erde befleckt. Edens Kleidung ist dagegen sauber.

»Ich muss allerdings zugeben, dass ich mich mit Waldbeeren nicht auskenne. Ich kann nicht einmal garantieren, dass sie nicht giftig sind.«

Ich muss mir auf die Lippe beißen, um nicht zu kichern. Dabei kann ich nicht sagen, ob ich lachen muss, weil ein Moraen mir potenziell giftige Waldbeeren gibt oder weil er mich davor warnt.

Ich nehme eine der Beeren und schiebe eine Hand unter meinen Schleier, um sie mir in den Mund zu stecken. Sie sind sauer, aber saftig.

»Eure Heiligkeit!«, ruft Mikail aus und er klingt tatsächlich besorgt.

Diesmal kann ich ein Kichern nicht zurückhalten. »Dieser Titel scheint nicht sehr angebracht für jemanden, der nicht einmal in der Lage ist, das Gift einer Waldbeere zu heilen, my Lord.«

Mikails Brauen ziehen sich zusammen und er senkt blinzelnd den Blick, während sich seine Wangen rot färben. »Oh«, murmelt er und ich sehe wie er die Fäuste ballt. »Verzeiht mir.«

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