Posterboy

XII.

Wenn die Wahrheit zur Lüge wird

Kohei hat schlechte Laune. Und das, obwohl heute eigentlich ein guter Tag sein sollte. Er ist auf dem Weg zum Flughafen, um Marika und Saburo abzuholen, letzteren nur, weil es eine Verschwendung wäre, seinetwegen ein Taxi zu bezahlen. Aber der Grund, aus dem er schlechte Laune hat, ist nicht sein Bruder.

Er hat das Büro früh verlassen, um rechtzeitig am Flughafen zu sein, und er hat beim Gehen Aozoras Blick auf sich gespürt. Er ist nicht überrascht, dass sie herausgefunden hat, dass der Besuch, den er erwartet, besonders ist. Und es ist auch nicht seine Absicht gewesen, es ihr zu verheimlichen. Eigentlich.

Es ist verständlich, dass sie wütend auf ihn ist, aber der Grund, aus dem er sie meidet, hat nichts mit Marika zu tun. Es geht viel mehr um einen Ausrutscher seinerseits und das Letzte, was er will, ist Aozora zu verwirren. Sie ist die erste Frau, mit der er schläft und darüber hinaus eine Beziehung anderer Natur teilt. Und er schätzt sie als Kollegin. Genug, um ihr Verhältnis so reibungslos wie möglich beenden zu wollen, sodass sie beide wie zuvor miteinander auskommen würden. Denn die Wahrheit ist, dass ihr Verhältnis nie als etwas Dauerhaftes geplant war, von keinem von ihnen. Und es wäre schade, wenn er kurz vor knapp für ein Missverständnis sorgen würde. Nicht, dass es helfen würde, dass er ihr aus dem Weg geht, aber da sie jetzt schon davon ausgeht, dass er sich mit einer anderen Frau trifft, ist es nicht nötig, ihr das nochmal zu erklären. Auch wenn eine Entschuldigung nicht schaden könnte. Und ein Hinweis, sich nicht Mr. Blake als Nächstes ins Bett zu holen.

Kohei ist nicht blöd. Aozora trägt keinen Lippenstift bei der Arbeit, aber Mr. Blake behandelt sie definitiv anders, als er Kohei behandelt hat. Und sie waren zusammen in dieser Umkleide. Außerdem hat Mr. Blake ihr irgendetwas gegeben und Kohei würde wetten, dass sie nicht über die Arbeit gesprochen haben. Er kann sich zwar nicht vorstellen, dass Aozora gefallen an einem Mann finden würde, der aussieht wie eine gestriegelte Schuhbürste, besonders nicht nach Kohei, aber sicher ist sicher.

Er kommt schließlich beim Flughafen an und er wartet geduldig vor dem Ausgang des Gates, während er Tomoda übers Handy ein paar Anweisungen schickt.

»Kohei!«

Etwas überrascht hebt er den Kopf, da er nicht gedacht hat, dass es so schnell gehen würde, aber tatsächlich sieht er Marika und seinen Bruder aus dem Gate kommen. Er wirft einen Blick auf die Uhr. Offenbar ist er knapper angekommen, als er gedacht hat. Er war so konzentriert auf den Vortrag, den er an Tomoda abgeben musste, um herkommen zu können, dass er gar nicht auf die Uhr gesehen hat.

Jetzt steckt er das Handy weg und geht mit einem Lächeln auf Marika zu.

Die lässt ihre Tasche fallen und kommt auf ihn zu gelaufen. Und wirft sich ihm um den Hals.

Kohei blinzelt etwas verdutzt.

»Es ist so schön, dich zu sehen«, sagt Marika dicht bei seinem Ohr. Dann lässt sie ihn wieder los. »Oh, das tut mir leid. Amerikanische Angewohnheit.« Sie streicht sich eine Haarsträhne hinters Ohr, während sie ihn beschämt anlächelt.

Kohei runzelt die Stirn. Sie haben sich vor etwas mehr als einem Jahr das letzte Mal gesehen und damals hat Marika schon eine Weile in den USA gelebt, aber umarmt hat sie ihn nicht. Nun, es ist ja ein Versehen gewesen. »Kein Problem«, sagt er mit einem Lächeln. »Der Flug war lang. Wie geht es dir?«

Marika blinzelt, als würde seine Frage sie überraschen. Aber dann lächelt sie. »Es geht mir gut. Sehr gut sogar, es ist schön wieder hier zu sein. Zu Hause.«

Ihr Lächeln ist ein vertrauter Anblick. Sie lächelt auf allen Bildern, die er von ihr besitzt. Aber es ist kein Vergleich dazu, sie in Person vor sich zu haben.

»Ist das alles?« Saburo stellt sich neben Marika und mustert Kohei von oben bis unten mit abschätzendem Blick. »Du siehst aus, als wärst du direkt aus dem Büro hergekommen.«

Kohei runzelt die Stirn. »Bin ich auch«, sagt er und fragt sich, ob sein Bruder erwartet hat, dass er in einem teuren Anzug und mit Blumen auftaucht. Und dann fragt er sich, wieso er nicht selbst daran gedacht hat. Er wirft Marika einen Blick zu.

Sie lächelt immer noch. »Ich finde Kohei sieht immer gut aus, egal was er trägt.«

Kohei erwidert ihr Lächeln zufrieden. »Danke!«

Marika blinzelt.

Saburo schnaubt. »Mein taktloser Bruder.«

Kohei verzieht das Gesicht und richtet seinen Blick auf ihn. »Ich habe sehr kurzfristig von eurer Anreise erfahren. Es ging nicht anders.«

»Wirklich? Ich wusste gar nicht, dass dein kleiner Job so unentbehrlich für Japan ist.«

»Natürlich weißt du das nicht, dazu braucht man Sozialkompetenz und Verantwortungsbewusstsein«, erwidert Kohei gelassen. Verglichen mit Aozora ist sein Bruder ein Klacks.

Saburos Miene verdüstert sich.

»Bitte Jungs, nicht streiten«, sagt Marika und stellt sich zwischen die beiden und Kohei sieht auf ihre Hand hinunter, die sie federleicht auf seiner Brust platziert.

»Tut mir leid«, sagt Kohei und berührt behutsam ihr Handgelenk. »Du bist bestimmt müde. Mein Wagen steht draußen.«

»Du bist selbst hergefahren?«, mischt sich Saburo ein und Kohei merkt, dass er zwar brav hinter Marika stehen bleibt, aber die Fäuste ballt.

»Ich fahre gern. Das solltest du auch öfter tun, Bruder.« Er schenkt ihm ein Lächeln. »Vorausgesetzt, du kannst es noch.«

Saburo gibt nur wieder einen abfälligen Laut von sich und geht auf den Ausgang zu. »Wozu? Du machst dich ausgezeichnet als Fahrer.« Im Vorbeigehen wirft er Kohei einen hämischen Blick zu.

»Warte auf uns!«, ruft Marika ihm hinterher, hält Kohei aber am Arm fest, als er seinem Bruder folgen will. »Ich habe doch gesagt, dass ihr nicht streiten sollt!«, sagt sie und schiebt schmollend die Unterlippe vor.

Kohei starrt sie einen Moment an. Es fühlt sich noch so surreal an, sie vor sich zu haben. »Du weißt doch, dass das nichts bringt.«

Marika sieht beleidigt aus und sie lässt seinen Arm los, um Saburo hinterherzustampfen.

Kohei seufzt und folgt ihr.

Saburo setzt sich mit Marika auf die Rückbank und unterhält sich dort leise mit ihr, um Kohei auszuschließen. Allerdings hat Kohei ohnehin keine Zeit zu plaudern, da er über sein Headset mit Tomoda spricht.

»…ich sag dir, sie ist echt angepisst. Warum konntest du nicht Ms. Aozora fragen, ob sie für dich übernimmt.«

»Eine gute Idee. Schlag das Ms. Umemoto vor.«

»Bitte was?«

Koheis Blick huscht zum Seitenspiegel. »Sag ihr, dass sie Ms. Aozora als Kontaktperson an Stelle von mir haben kann«, sagt er, während er abbiegt. Sie befinden sich in den Außenbezirken der Stadt und selbst von hier direkt zu Jun Styles, dem Modeunternehmen, für das Ms. Umemoto arbeitet, zu fahren, würde fast eine Stunde dauern.

»Bist du verrückt?!«

»Sag es ihr.«

Tomoda seufzt, aber Kohei hört, wie er die Frage an Ms. Umemoto richtet.

Saburo schnaubt, aber Kohei ignoriert die Tatsache, dass er und Marika ihm offenbar zuhören.

Kurz darauf raschelt es und eine Frauenstimme ertönt in seinem Ohr. »Mr. Inouye?«

»Ja?«

»Ich denke, hier liegt ein großes Missverständnis vor! Alles, was ich will, ist, dass Sie sich an unseren Vertrag halten!«, schimpft Ms. Umemoto, aber wie erwartet, hat sie keinerlei Intentionen, Kohei gegen Aozora zu tauschen. Immerhin versucht sie Kohei davon zu überzeugen, für ihr Unternehmen zu modeln.

»Es ist kein Vertragsbruch, wenn ich einen Vertreter schicke. Und ich versichere Ihnen, dass Mr. Murasaki Ihnen genau denselben Vortrag halten wird wie ich es getan hätte.«

»Machen Sie keine Witze!«

Kohei lacht. »Verzeihen Sie, aber ich wusste, dass Sie es mir nicht übel nehmen würden. Dazu kennen Sie mich zu gut.«

Ms. Umemoto seufzt. »Das dachte ich auch, aber ich habe nicht erwartet, dass sie mich versetzen.« Trotz ihrer Worte klingt ihre Stimme sanfter als zuvor.

»Aber das habe ich doch gar nicht. Ich habe Mr. Murasaki geschickt oder wollen Sie sich bei mir über ihn beschweren.«

»Nein, aber ich wollte etwas mit Ihnen persönlich besprechen.«

»Ich werde es mir bei unserem nächsten Treffen anhören. Vorausgesetzt natürlich, Sie wollen es mir dann immer noch sagen.«

»Oh, Mr. Inouye, Sie wissen ganz genau, dass ich das will!«

Kohei lächelt. »Wo liegt dann das Problem?«

Ms. Umemoto seufzt erneut. »Sie sind ein böser Mann!«

Er lacht auf. »Das gebe ich zu. Aber tun Sie mir einen Gefallen und seien Sie nicht zu hart zu Mr. Murasaki. Man sieht es ihm vielleicht nicht an, aber er ist zartbesaitet.« Er kann praktisch hören, wie Ms. Umemoto daraufhin Tomoda mustert.

Tomoda ist ein kleinerer, aber kräftiger Mann mit kurzem stachligem braunen Haar und einem Gesicht, das an einen Yakuza erinnert. Und seinem Aussehen entsprechend ist er alles andere als zartbesaitet.

Ms. Umemoto kichert. »Ich verstehe. Ich werde mein Bestes tun, Mr Inouye.«

»Ich danke Ihnen, Ms. Umemoto. Und wir sehen uns in ein paar Wochen.«

»Oh, das will ich schwer hoffen, Mr. Inouye. Bis dann.«

Kohei nimmt das Headset ab und wirft einen Blick in den Rückspiegel.

Marika sieht ihn an. »Wer war das?«

»Eine Kundin«, antwortet Kohei knapp.

»Es ist nichts, worum du dir Sorgen machen musst, Marika«, fügt Saburo hinzu. Er klingt um einiges mürrischer als sein Schnauben vorhin.

»Natürlich nicht«, stimmt Kohei zu, bevor Saburo das Thema wechseln kann.

»Es ist komisch, weil es sich zuerst so angehört hat, als hättest du einen Fehler gemacht. Aber dann klang es, als hätte sie sich entschuldigt.« Marika tippt sich nachdenklich mit dem Finger gegen das Kinn.

»Weil sie den Fehler gemacht hat. Es ist wichtig zu wissen, was ein Kunde will und wann er nur blufft. In diesem Fall schätzt Ms. Umemoto mich zu sehr, um mich wirklich feuern zu wollen«, erklärt Kohei nicht ohne Stolz.

»Es ist traurig, dass du es nötig hast, mit deinen Kundinnen zu flirten«, bemerkt Saburo abfällig.

Kohei schnaubt. »Wenn du das sagst, Bruder«, sagt er und kann förmlich hören, wie sich eine tiefe Falte auf Saburos Stirn bildet. Anders als Kohei ist Saburo von Anfang an entschlossen gewesen, dem Familienunternehmen beizutreten und hat nach seinem Studium sofort einen Managerposten übernommen.

»Ehrlich gesagt, Kohei, verstehe ich auch nicht, wieso du für eine namenlose Firma arbeitest und dann auch noch ohne guten Posten, aber du hast sicher deine Gründe, oder?«

Kohei legt die Stirn in Falten, aber Marika fragt schließlich, weil sie es nicht versteht und so antwortet er geduldig. »Ich möchte keine Position, die ich nur wegen meinem Großvater bekommen habe. Außerdem glaube ich, dass es hilfreich ist, selbst einmal als normaler Angestellter zu arbeiten, bevor man eine Führungsposition annimmt.«

»Ich würde dir recht geben, wenn du nicht schon seit zwei Jahren in diesem Job feststecken würdest«, sagt Saburo und Kohei verzieht das Gesicht. Er wünscht sich, dass er doch die Kosten eines Taxis für seinen Bruder auf sich genommen hätte. »Ich stecke nicht fest. Ich habe nur noch nicht erreicht, was nötig ist.«

»Aber du hast schon vor, bald eine bessere Stelle zu bekommen? Ich meine, du willst doch bestimmt einmal Mr. Toshiro nachfolgen. Da musst du mindestens CEO einer Firma sein.« Marikas Stimme klingt sanft, als wolle sie die Spannung aus der Diskussion nehmen.

Kohei wirft Saburo einen Blick zu. Natürlich ist das vor allem sein Ziel. Wenn überhaupt hat Kohei es in der Vergangenheit aus Boshaftigkeit seinem Bruder gegenüber verfolgt. »Sicher«, antwortet er, ungeachtet des grimmigen Ausdrucks auf dem Gesicht seines Bruders. Schließlich kennt Marika seine Motive nicht, denkt er sich, während er seinen Blick wieder auf die Straße richtet. Und es ist verständlich und schmeichelhaft, dass sie sich für seine Zukunftspläne interessiert. Sie ist nicht wie manch eine Frau, die mit dem nächstbesten Bettler ausgeht.

Jetzt wo er darüber nachdenkt, erinnert er sich, dass die meisten Geschenke, die Aozora für ihren idiotischen Ex gekauft hat, immer etwas mit Anime zu tun hatten. Wenn man das mit der Tatsache kombiniert, dass er aussieht, wie ein Arbeitsloser, ist er bestimmt ein Nerd, dessen Traum, ein erfolgreicher Mangaka zu sein, scheitert. In diesem Fall ist es kein Wunder, dass Aozora ihn abserviert hat.

Kohei legt die Stirn in Falten. Nein, da sie ihn so mit Geschenken überhäuft hat, hätte sie nie deswegen Schluss gemacht. Und es hat eher so gewirkt, als hätte er sie abserviert. Auch wenn das noch weniger Sinn machen würde. Oder dieser Kosuke ist noch ein größerer Mistkerl, als er gedacht hat. Oder Kohei liegt völlig falsch.

»Kohei?«

Kohei blinzelt und sieht wieder in den Rückspiegel.

Marika sieht ihn abwartend an.

»Hm? Hast du etwas gesagt?«

Ihre Miene verdüstert sich deutlich. Dann schiebt sie die Unterlippe vor. »Kohei! Wie kannst du mich einfach ignorieren?«

»Das war keine Absicht. Ich war auf die Straße konzentriert.« Das ist nicht ganz richtig, vor allem da es momentan einfach geradeaus geht, aber Kohei ist etwas überrascht, dass Marika deswegen so gereizt reagiert. Möglicherweise liegt das an ihrer Erschöpfung von der Reise.

Saburo gibt ein amüsiertes Schnauben von sich.

Eine halbe Stunde später erreichen sie das Hotel, indem Marika wohnen wird, bis sie sich für eine Wohnung entschieden hat. Auch Kohei bekommt vorübergehend ein Zimmer und einen Anzug bereitgestellt, damit er sich nicht in seiner Bürokleidung zu Marika und Saburo an den Tisch setzen muss. Die beiden sind nach ihrem Flug verständlicherweise hungrig und wollen sich frisch machen, während Kohei die meiste Zeit damit verbringt, Mails zu beantworten. Aus diesem Grund erscheint er auch als letzter auf der sonnigen Terrasse, auf der das Hotel einen Tisch für sie vorbereitet hat.

»Tut mir leid«, sagt Kohei als er in die Sonne tritt. Er ist froh, dass der Anzug, den er trägt, aus weißen Leinen besteht. In seinem Büroanzug hätte er wohl sofort zu schwitzen angefangen.

»Du musst lernen, deine Prioritäten zu setzen«, erwidert Saburo missbilligend, aber Kohei beachtet ihn gar nicht. Er lächelt Marika an, die nun ein hübsches weißes Sommerkleid trägt. Sie hat ihr Make-up erneuert und ihre Locken glitzern im Sonnenlicht wie Gold.

Sie erwidert sein Lächeln. »Setz dich zu uns, Kohei.«

Er folgt ihrer Aufforderung und sie beginnen mit dem Essen, während Marika von ihrem Umzug erzählt und warum sie ihn so häufig aufgeschoben hat. Es muss sehr stressig gewesen sein, aber Kohei bemerkt, dass Saburo zunehmend grummeliger aussieht. Dann entschuldigt er sich und Kohei sieht ihm etwas überrascht nach, da sein Bruder sonst so bedacht darauf ist, ihn nicht mit Marika allein zu lassen.

»Kohei?« Etwas berührt seine Hand.

Kohei dreht den Kopf wieder Marika zu und ihrer Hand, die ganz sanft auf seiner liegt. Ihre Hände sind klein. Sogar verglichen mit Aozoras, aber Marika ist auch einige Zentimeter kleiner als Aozora.

»Sei nicht zu wütend auf ihn. Es ist meine Schuld. Ich glaube, ich habe dich ein bisschen zu sehr angestarrt.«

Er blinzelt verdutzt. »Was meinst du?«

Marika nimmt ihre Hand von seiner und senkt beschämt den Blick. »Na ja, der Anzug steht dir sehr gut…«

Kohei starrt sie an. Flirtet sie mit ihm? »Ich bin nicht wütend auf ihn. Wieso sollte ich?«

Sie hebt den Blick wieder und sieht ihn überrascht an. »Oh«, macht sie.

Ihre Überraschung verwundert ihn. Immerhin weiß Marika ganz genau, weshalb Saburo und Kohei sich nicht verstehen.


 

Kohei fährt für die Nacht nach Hause und steht am nächsten Morgen früh auf, um den Bericht, den Tomoda ihm zugeschickt hat, durchzugehen. Er ist müde. Der vergangene Tag hat ihn mehr erschöpft, als er gedacht hat, und so dauert die Arbeit länger als nötig. Kurz vor Mittag bekommt er dann eine SMS von Marika, die ihn fragt, ob er sie abholen könne, weil sie seine Wohnung sehen wolle. Wegen seiner schlechten Laune antwortet er ihr, dass sie zwar vorbeikommen kann, er aber keine Zeit hat, sie abzuholen. Schließlich ergibt es keinen Sinn, von seiner Wohnung zum Hotel und wieder zurückzufahren, wenn sie sich ein Taxi nehmen kann. Oder sie kann seinen Bruder fragen, ob er sie fährt. Letzteres scheint schlussendlich zu passieren, denn knapp eine Stunde später stehen die beiden vor seiner Tür.

»Kohei, warum ignorierst du mich, seit ich hier bin? Ich dachte, du freust dich mich zu sehen«, begrüßt Marika ihn, kaum dass er die Tür geöffnet hat. Sie hat die Arme vor der Brust verschränkt und sieht ihn mit vorgeschobener Unterlippe an.

»Tu ich doch gar nicht«, antwortet Kohei etwas irritiert. »Ich muss nur noch ein paar Dinge erledigen.«

»Dein Job schon wieder?«, fragt Saburo und mustert Kohei kritisch, als er an ihm vorbei die Wohnung betritt.

Da Kohei ursprünglich vorgehabt hat, Joggen zu gehen, bevor er sich an den Schreibtisch setzt, trägt er ein einfaches Shirt und eine Trainingshose. Es ist zugegeben nicht der beste Look, um Gäste zu empfangen, auch wenn Aozora ihn zu mögen scheint.

»Wieso ist das so wichtig?«

Kohei sieht seinen Bruder verwirrt an. »Natürlich ist es wichtig! Die Monatsendauswertung ist nächste Woche und ich muss…« Kohei stoppt und wirft Marika einen Blick zu. Aozora schlagen, hat er sagen wollen. Aber er will nicht, dass sie etwas missversteht. »...einen guten Job machen«, beendet er seinen Satz stattdessen.

Marika lächelt ihn an. »Du bist so pflichtbewusst! Was ist aus dem Kohei geworden, der alles auf die leichte Schulter genommen hat?«

Kohei blinzelt. Er muss an das denken, was sein Großvater auf der Gründungsfeier zu ihm gesagt hat, darüber, dass er nie etwas ernst genommen hat, bis er Aozora getroffen hat. Aber er schüttelt den Gedanken schnell wieder ab. »Ich nehme alles ernst, das wichtig ist.«

Ein Hauch von Röte erscheint auf Marikas Wangen.

Kohei lächelt. »Wieso kommt ihr nicht rein? Du wolltest doch meine Wohnung sehen.« Er deutet auffordernd auf sein Wohnzimmer. Seine Wohnung ist etwas, worauf er stolz ist, denn sie erfüllt all seine Bedingungen, was Größe, Komfort und Lage angeht. Und er hat noch nie Besuch gehabt, der nicht beeindruckt gewesen ist. Selbst Aozora ist es gewesen, auch wenn sie versucht hat, es zu verbergen.

»Saburo und ich wollten uns die Stadt ansehen, nachdem wir so lange weg waren. Und wir könnten noch einen Führer gebrauchen«, sagt Marika, nachdem sie alles angesehen haben und auf Koheis Couch sitzen. Es gibt Kaffee, leider ohne etwas dazu, weil Kohei nicht daran gedacht hat, etwas zu besorgen.

Kohei runzelt die Stirn und sieht seinen Bruder an. »Du brauchst einen Führer?«, fragt er spöttisch, woraufhin Saburo das Gesicht verzieht.

»Natürlich nicht. Marika ist nur höflich.«

»Ich weiß.« Kohei schenkt Marika ein dankbares Lächeln. »Und ich weiß es zu schätzen, aber ich muss noch ein paar Dinge erledigen.« Außerdem weiß er, dass Marikas Stadtbesichtigung eine Shoppingtour werden wird und das ist ihm heute zu anstrengend. Er will nur noch seine Arbeit beenden, etwas Sport machen und sich dann ausruhen.

»Was soll das heißen?!« Marikas Stimme ist schrill und laut und Kohei sieht sie verdutzt an.

Für einen Moment starrt sie ihn an, als hätte er etwas Unverzeihliches gesagt, dann wird dieser Ausdruck von Schock ersetzt. »Tut mir leid«, murmelt sie und hält sich eine Hand vor den Mund. Sie steht auf, wobei sie sich um ein Lächeln bemüht. »Ich bin wohl doch noch etwas erschöpft von der Reise. Entschuldigt mich.« Sie verlässt das Wohnzimmer Richtung Bad.

»Marika!« Saburo steht ebenfalls auf, aber er folgt ihr nicht. Stattdessen wendet er sich wütend an Kohei, kaum dass sie weg ist. »Was ist los mit dir?! Wieso behandelst du sie, wie eine x-beliebige Geschäftskundin?«

Kohei, der noch dabei ist, sich über Marikas Verhalten zu wundern, sieht nun seinen Bruder verwirrt an. »Wovon sprichst du?«

»Ich spreche davon, wie du dich benimmst, seit wir hier sind! Marika hat sich darauf gefreut, etwas mit uns beiden zu unternehmen. Und du weigerst dich, wegen deines bedeutungslosen Jobs?!«

Kohei schnaubt und steht ebenfalls auf. »Wieso regst du dich so auf? Sag bloß, du hast insgeheim gehofft, unser brüderliches Band zu festigen.«

»Es geht mir um Marika.« Saburo verschränkt die Arme vor der Brust. »Außerdem bin ich enttäuscht von dir. Ich dachte, du würdest dir mehr Sorgen darum machen, Marika mit mir allein zu lassen.«

Bei diesen Worten hätte Kohei beinah aufgelacht. Aber er begnügt sich mit einem Grinsen, während er auf seinen Bruder zugeht und ihm eine Hand auf die Schulter legt. »Du warst die letzten fünf Jahre allein mit ihr, Bruder. Und es hat sich nichts geändert.«

Saburo schlägt seinen Arm weg. »Kohei!«, knurrt er, das Gesicht zu einer wütenden Grimasse verzogen.

»Was ist?«, fragt Kohei gelassen, während er die Arme hinter dem Kopf verschränkt.

Saburos Blick zuckt kurz zu Koheis Armen und er schnalzt mit der Zunge. Einmal haben sie sich geprügelt. Damals ist Kohei noch in der Schule gewesen und Saburo hat, bevor er seinen Managerjob angenommen hat, Jui-Jitsu trainiert. Das Ergebnis war natürlich Koheis Niederlage, aber das ist nun schon zehn Jahre her. Nach diesem Vorfall hat Kohei mit Boxen angefangen und anders als sein Bruder hat er nicht damit aufgehört. Außerdem überragt er Saburo mittlerweile um ein Stück.

»Was hast du vor?« Der frostige Blick seines Bruders lässt Kohei sogar nach all den Jahren noch erschaudern, aber er gibt sein Bestes, sich nichts anmerken zu lassen. »Ich weiß nicht, was du meinst.«


 

Nachdem Saburo und Marika wieder gegangen sind, beendet Kohei den letzten Bericht und macht sich dann auf den Weg zur Boxhalle. Auf dem Weg dorthin fällt ihm auf, dass sie in derselben Richtung liegt wie Aozoras Wohnung und er fragt sich, ob die Boxhalle auch Kickboxen anbietet. Was für ein Zufall wäre es, wenn sie beide dort Mitglied sind.

Es ist ein warmer Tag und Kohei ist froh, dass er sich für die Boxhalle und nicht fürs Joggen entschieden hat. Um ihn herum laufen die Menschen im T-Shirt herum und er kommt an einem Café vorbei, das gut besucht ist. Es ist ein guter Tag für ein Date, denkt er, und wundert sich ein wenig, dass er vorhin tatsächlich seine Arbeit vorgezogen hat.

Aber dann nimmt etwas anderes seine Aufmerksamkeit in Anspruch und Kohei bleibt abrupt stehen. Er hat nur einen kurzen Blick ins Café geworfen und es braucht einen weiteren, um sicherzugehen, dass er sich nicht verguckt hat. Aber tatsächlich sitzt dort Aozora. Dass er sie nicht sofort erkannt hat, liegt zum einen daran, dass sie anstelle ihres Blazers ein weites Shirt trägt, das ihr über die linke Schulter gerutscht ist, und ihre Haare sind, verglichen mit ihrem üblichen strengen Pferdeschwanz, etwas wirr zu einem Dutt hochgesteckt. Aber der Hauptgrund ist ihr breites, fröhliches Lächeln. Und es gibt nur eine einzige Person, die ihr so einen unbeherrschten Ausdruck aufs Gesicht bringen kann.

Koheis Blick huscht zu dem Mann, der gegenüber von ihr sitzt. Dann ändert er die Richtung. Mit schnellen Schritten geht er auf die Tür des Cafés zu und streckt die Hand nach der Tür aus.

Genau in diesem Moment wird die Tür von innen geöffnet und schlägt gegen seine Hand.

»Oh je! Das tut mir leid!« Die Frau, die die Tür geöffnet hat, sieht geschockt aus.

Kohei setzt ein Lächeln auf. »Nichts passiert«, sagt er und greift nach der Tür, um sie für sie aufzuhalten.

»Oh, vielen Dank.« Der Schock auf ihrem Gesicht wird durch ein freundliches Lächeln ersetzt. »Haben Sie noch einen schönen Tag!«

»Den wünsche ich Ihnen auch«, erwidert Kohei mit fröhlicher Stimme und beobachtet, wie die Frau mit einem geschmeichelten Ausdruck auf dem Gesicht von dannen zieht. Dann verhärtet sich seine Miene. Was wollte er gerade tun? Ins Café stürmen und Aozora anschnauzen, dass sie nicht schon wieder auf ihren nichtsnutzigen Ex hereinfallen soll? Das hat nichts mit ihm zu tun!

Er lässt die Tür los und geht am Café vorbei.

In der Boxhalle angekommen, sucht er sich einen Boxsack im hinteren Teil der Halle. Noch mehr als vorher verspürt er das Verlangen danach, seinen Kopf abzuschalten, aber seine Augen huschen immer wieder zu der großen Uhr an der Wand. Und seine Gedanken zu der Frage, ob Aozora noch immer in dem Café sitzt.

Kohei schlägt auf den Boxsack ein. Schweiß läuft ihm über die Schläfen. Sein Atem geht schwer und seine Arme schmerzen vor Anstrengung. Aber sein Kopf will nicht still sein.

Vor zwei Wochen, als er Aozora versehentlich ein Geständnis gemacht hat, haben all seine Gedanken darum gekreist, wie er ihr sagen konnte, dass er es nicht so gemeint hat und ob es nicht besser wäre, den Mund zu halten und zu hoffen, dass sie es nicht gehört hat. Letztendlich wollte er das Risiko nicht eingehen, dass sie seine Worte gehört und ernst genommen hat, und entschieden, mit ihr zu reden. Aber was er nicht erwartet hat, ist, dass sie es zwar gehört, aber nicht ernst genommen hat. Ihre Worte hallen ihm noch immer durch den Kopf: »Warum sollte ich etwas von dem ernst nehmen, dass du vor dich hin murmelst, wenn wir miteinander schlafen?« Sie hat ihn angesehen, als wüsste sie nicht, weshalb er das überhaupt fragen muss, und sie hatte recht. Er hat Unsinn geplappert, während sie miteinander geschlafen haben, also wieso hat er sich das ganze Wochenende den Kopf darüber zerbrochen?

Er hat entschieden, es zu ignorieren, Aozora zu meiden und sich stattdessen auf Marikas Ankunft zu konzentrieren, aber das Resultat war, dass er sich Aozora gegenüber idiotisch und unprofessionell verhalten hat, was ihn wiederum dazu gebracht hat, mehr über sie nachzudenken als über Marika.

Er denkt daran, was sein Bruder zu ihm gesagt hat, bevor er gegangen ist. Darüber, dass er Marika wie eine Geschäftskundin behandelt. Es ist ihm nicht aufgefallen. Wie sollte es auch, wenn er ständig abgelenkt ist? Auf dem Weg zum Flughafen, im Hotel, selbst an diesem Mittag, als Marika und Saburo zu Besuch gekommen sind. Seit wann ist es so selbstverständlich für ihn geworden, über Aozora nachzudenken, dass er es nicht einmal mehr bemerkt? Und seit wann ist die Frau seiner Träume nicht wichtiger als eine Geschäftskundin?

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