Tod der Heilgen

Repeat: Estella

Es ist ein weiterer Morgen, an dem ich durchgefroren und mit schmerzenden Gliedern erwache. An diesem Punkt ist mein ganzer Körper nur noch ein Schmerz und ich setze mich mit einem Stöhnen auf. Meine Haare fallen mir wirr ins Gesicht und der Stoff meines Kleides, das ich seit Tagen ununterbrochen trage, hat seine Geschmeidigkeit verloren. Und ich fühle mich noch elender, als ich Ihre Heiligkeit bei ihrem Hirsch sitzen sehe, in ihren weißen Kleidern, die nicht einen einzigen Fleck aufweisen. Man würde nicht glauben, dass sie genauso lange in diesem modrigen Wald war, wie ich.

Aber ihre Anwesenheit ist nicht das schlimmste. Ich sehe unwillkürlich zu Mikails Schlafplatz, der jedoch leer ist. Unschlüssig ob ich darüber erleichtert sein soll oder ob es nicht schlimmer ist, dass er mich in diesem Zustand hat schlafen sehen, beginne ich meine Haare mit den Fingern zu kämmen. Währenddessen setzen sich auch Annie und Hilena auf. Beide sehen nicht viel ausgeschlafener aus, als ich.

»Wo ist Mika?«, fragt Annie mit verschlafener Stimme.

»Wahrscheinlich am Fluss«, antworte ich, denn ich bin mir sicher, dass Mikail nach etwas zu essen für uns sucht und bisher ist Fisch das einzige, das er finden konnte.

Hilena stöhnt. »Schon wieder Fisch. Ich weiß ja, dass es nichts anderes gibt, aber ich kann Fisch so langsam nicht mehr sehen.«

»Mika hat gesagt, er versucht, etwas zum Würzen zu finden. Er tut sein Bestes, damit es gut schmeckt!« Annie sieht Hilena tadelnd an und ich finde es niedlich, dass sie nie zu müde ist, um ihren Bruder zu verteidigen.

»Ich weiß, aber - « Hilena, deren Worte sicher nicht böse gemeint waren, bricht ab, als Jake sich plötzlich mit einem Keuchen aufsetzt. »Was ist los?« Hilena richtet ihren Blick besorgt auf Jake und auch ich vergesse meine Haare.

»Da war eine Frau«, stammelt er, aber er sieht die Heilige an. »Sie hat die Monster getötet. Da waren so viele Monster, aber sie hat sie alle getötet.«

Auch wenn seine Worte absurd klingen, versteife ich mich unwillkürlich und ein Bild der riesigen Bergtrolle taucht vor meinem inneren Auge auf. Monster?

»Wovon sprichst du?«, fragt Hilena und ihre Stimme reißt mich aus meiner Starre. »Du hast eine Frau gesehen, die Monster getötet hat?« Das würde bedeuten, dass sich noch jemand in der Nähe befindet, der uns helfen könnte.

Jake nickt, aber seine Miene ist düster, als würde er meine hoffnungsvollen Vorstellungen nicht teilen. »Ich bin aufgewacht und Ihre Heiligkeit war nicht da, also bin ich aufgestanden, um sie zu suchen, und da habe ich sie gesehen.« Er schüttelt den Kopf. »Da waren Bergtrolle und irgendwelche Insektenviecher und noch andere, und sie hat sie alle getötet. Allein.« Er richtet seinen Blick wieder auf die Heilige. »Eure Heiligkeit, ich denke, wir sollten vorsichtig sein. Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist das sie mich angegriffen hat.«

Ich höre ihm ungläubig zu. Bergtrolle und andere Monster? Und eine Frau soll sie ganz in der Nähe getötet haben, ohne das wir etwas davon gemerkt haben? Die Vorstellung ist beunruhigend und auch ich sehe zu Ihrer Heiligkeit, in der Hoffnung, dass sie meine Sorgen besänftigt.

Aber die Heilige legt den Kopf schief. »Es tut mir leid, aber ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht. Ich war die ganze Nacht hier, genauso wie Ihr und Ihr seid nicht einmal aufgewacht.«

Ich starre die Heilige an. Dann sehe ich zu Jake, der ein ungläubiges Gesicht macht. »Was?!«

»Ich denke, Ihr hattet nur einen sehr lebhaften Traum«, sagt die Heilige mit sanfter Stimme und ich atme erleichtert auf. »Gott sei Dank!« Meine Erleichterung übertrifft meinen Ärger darüber, dass Jake uns alle wegen eines Traums so erschreckt hat. Und jetzt, wo ich darüber nachdenke, wäre es auch eigenartig gewesen, wenn er sich einfach wieder schlafen gelegt hätte, nachdem er von einer Fremden angegriffen wurde.

»Wieso überrascht es mich nicht, dass du von irgendwelchen Frauen träumst?« Hilena klingt verärgert. Ich weiß von ihr, dass Jake, obwohl er so gut wie verlobt mit Hilena ist, sich dann und wann von anderen Frauen ablenken lässt. Es stimmt zwar, dass Jake oft eine sehr freizügige Art an den Tag legt, aber ich halte mich mit meiner Meinung dazu zurück. Mikail zeigt niemals auch nur den Hauch von romantischem Interesse an anderen Frauen, sodass ich nicht so tun kann, als würde ich Hilenas Situation verstehen.

Daher schlage ich Annie vor, zum Fluss zu gehen, um uns zu waschen und nach Mikail zu suchen. Mein Vorschlag scheint sie zu erleichtern und gemeinsam verlassen wir unseren Rastplatz.



 

Nachdem wir uns an einer Stelle am Fluss gewaschen haben – wobei ‚waschen‘ wirklich zu viel gesagt ist -, machen wir uns auf die Suche nach Mikail. Wir finden ihn, nachdem wir etwas Fluss aufwärts gegangen sind und ich weiß, dass er absichtlich einen Platz gewählt hat, der weiter entfernt von unserem Rastplatz ist, damit er uns andere nicht stört, wenn wir aufwachen und uns waschen wollen. Er ist immer so rücksichtsvoll.

Mikail steht am Ufer, die Ärmel seines Hemds hochgekrempelt und die Morgensonne glitzert golden auf seinem Haar, während er mit konzentrierter Miene aufs Wasser sieht. Auch er sieht etwas zerzauster aus, als ich es gewohnt bin, aber seinem guten Aussehen vermag es nicht zu schaden. Im Gegenteil, die letzten Tage haben mir nur wieder gezeigt, wie viel Glück ich habe.

Es plätschert und mein Blick verlässt Mikail für einen Moment, um zu sehen, wie ein Fisch aus dem Wasser geflogen kommt. Er zappelt nicht, als er sich Mikails ausgestreckter Hand nähert und schließlich auf einem Stein neben Mikail abgelegt wird. Selbst wenn er dabei ist, seine Aura zu benutzen, um Fische zu fangen, ist er dabei so sanft und vorsichtig, als wären die Fische unheimlich wertvoll.

»Mika!« Annie, die Mikail ebenfalls zugesehen hat, hebt ihre Hand und winkt.

Mikails Blick richtet sich auf uns und ein warmer Ausdruck tritt in seine Augen, als er uns anlächelt. »Guten Morgen. Habt ihr gut geschlafen?«, fragt er und diese Frage allein reicht aus, um mich alle Beschwerden, die ich noch vor ein paar Sekunden über diesen Morgen hatte, zu vergessen. »Ja, sehr gut«, erwidere ich mit einem Lächeln. Es ist eine Lüge, aber Mikails Lächeln wird eine Spur breiter, als wäre er erleichtert und ich bereue es nicht, gelogen zu haben.

»Wirklich?« Anni sieht mich zweifelnd an. »Mir tut alles weh, weil der Boden so hart ist.«

Wir bleiben vor Mikail stehen und er streckt die Hand nach Annie aus, um ihr lohnend über den Kopf zu streichen. »Es ist sehr unbequem, nicht wahr? Aber du hast gut durchgehalten.«

Annies Miene, die einen unzufriedenen Ausdruck gezeigt hat, hellt sich bei Mikails Worten auf.

Ich räuspere mich. »Ich hoffe, du konntest auch gut schlafen, Mikail.«

Mikails Blick richtet sich auf mich. »Ja. Danke, Stella.«

»Das freut mich«, sage ich und versuche, einen gelassenen Eindruck zu machen. Leider fällt mir genau in diesem Moment wieder ein, dass meine Haare ein durcheinander sind. Ich hebe die Hand, um sie zu berühren. Doch meine Absicht, meine Haare zurückzustreichen, scheitert, als sich meine Finger in meinen Locken verheddern. Und als ich wieder zu Mikail sehe, bewahrheitet sich meine Befürchtung, dass er mich immer noch ansieht.

Ich senke beschämt den Blick. »Ich habe leider keinen Kamm. Ich weiß, meine Haare sehen schrecklich aus.« Ich sage es, bevor Mikail es sagen kann.

»Wir können nach einem Kamm suchen, sobald wir im nächsten Dorf sind«, sagt Mikail noch immer mit ruhiger Stimme. »Aber auch wenn sie ein wenig wild aussehen, sind deine Haare immer noch wunderschön.«

Hitze steigt mir ins Gesicht. Wie soll ich gelassen bleiben, wenn er solche Dinge sagt? Ich will nicht, dass er sieht, wie mein Gesicht rot wie eine Tomate wird.

»Mika, was sind das für Blätter.«

Ich blinzle und hebe den Blick, nur um zu sehen, wie Mikail sich umdreht, um in die Richtung zu sehen, in die Annie deutet. Ich atme auf, auch wenn ein Teil von mir enttäuscht ist. Vielleicht hat er es nicht bemerkt, aber während mein Herz noch immer in meiner Brust hämmert, antwortet Mikail gelassen auf Annies Frage.

Ich zupfe an meinen Haaren. Findet er mich wirklich schön? Oder sagt er das nur, weil er ein Gentleman ist?



 

Wir kehren zu dritt zu unserm Rastplatz zurück, wo wir von Edens unhöflicher Stimme empfangen werden. »Es wäre jedenfalls besser, als dieser widerliche Fisch. Auch wenn dieses Vieh nicht viel besser aussieht.«

Wut steigt in mir auf, als ich daran denke, wie Mikail vor uns allen aufgestanden ist, damit wir überhaupt etwas zu essen haben. »Ihr dürft Euch gern um eine bessere Mahlzeit für uns alle bemühen, Onkel«, sage ich, mit einem warnenden Blick auf Eden, der in den letzten Tagen nichts getan hat, außer zu meckern und Ihre Heiligkeit zu belästigen.

Eden erwidert meinen Blick abfällig, aber bevor er etwas sagen kann, spricht Mikail. »Ich verstehe Eure Unzufriedenheit, Euer Hoheit. Glücklicherweise habe ich heute einige Blätter mit einem angenehmen Geschmack gefunden.« Sein ruhiger Tonfall und das Lächeln auf seinem Gesicht beruhigen sogar Edens Gemüt, denn er entscheidet sich dagegen, etwas zu sagen und wirft stattdessen den Blättern, die Annie hochhält, einen skeptischen Blick zu.

Zugegeben auch ich bin nicht erfreut darüber, Blätter zu essen, aber ich vertraue Mikail. Und um ihm zu helfen die anderen zu überzeugen, von denen keiner sehr erpicht darauf scheint, die Blätter zu probieren, zupfe ich die Spitze eines der Blätter ab und stecke sie in den Mund.

»Oh!« Ich hebe erstaunt eine Hand an den Mund, als sich ein leicht scharfer, aber angenehmer Geschmack in meinem Mund ausbreitet. Er kommt mir sogar bekannt vor, auch wenn ich nicht darauf komme, woran er mich erinnert. »Du hast recht, Mikail. Dieser Blätter schmecken erstaunlich gut. Wo hast du sie gefunden?« Ich sehe zu Mikail, der jedoch nicht mich ansieht. Sein Blick ist auf die Heilige gerichtet, die etwas entfernt von den anderen sitzt und die Arme um den Hirsch gelegt hat.

Ich spüre einen Knoten in meiner Brust. Es sollte eigenartig aussehen und man sollte sich fragen, weshalb sie den Hirsch umarmt. Aber stattdessen könnte man bei ihrem Anblick meinen, man betrachte ein Gemälde. Ihr Gesicht ist hinter ihrem Schleier verborgen und doch wirkt sie so schön, dass ich es Mikail nicht verdenken kann, dass er sie ansieht.

»Ah, ich habe sie im Wald gefunden. Es gibt eine Stelle, wo der ganze Boden von ihnen bedeckt ist.« Mikail richtet seinen Blick auf mich und das sanfte Lächeln auf seinem Gesicht, lässt es fast so wirken, als hätte der Anblick der Heiligen ihn kaum berührt.

Aber dann, als ich gerade dabei bin Hilena zu ermutigen, auch ein Blatt zu probieren, da sie, anders als Jake und Dalton, Hemmungen hat, sich die Blätter in den Mund zu stecken, merke ich, dass Mikail erneut zur Heiligen sieht.

Sie ist aufgestanden und scheint die Bäume zu betrachten. Vielleicht ist ihr langweilig, aber Mikail beobachtet sie, als wäre er besorgt um sie.

»Wahrscheinlich macht er sich Vorwürfe, weil sie keinen Fisch isst«, flüstert Hilena mir zu.

Ich sehe sie an. »Aber dafür kann Mikail doch nichts«, erwidere ich, obwohl sie recht haben könnte. Mikail ist sehr pflichtbewusst und ich weiß, dass er das Gefühl hat, er würde in der Schuld der Heiligen stehen, weil sie ihn und Annie geheilt hat und uns alle beschützt. Es passt zu ihm.

»Eure Heiligkeit«, sagt Mikail plötzlich und steht auf. Er geht zu ihr. »Ist alles in Ordnung?«

Ich weiß, was für ein Mann Mikail ist. Er ist gutherzig und rücksichtsvoll, deswegen kann er die Heilige mit ihrem schwächlichen Körper nicht ignorieren. Und das ist auch gut so. Ich bewundere ihn dafür.

Und doch … Ich kann nicht hören, worüber sie sich unterhalten, aber die Gelassenheit, die Mikail stets umgibt, scheint zu fehlen.

Und dann, gerade als ich versuche, mich wieder auf mein Gespräch mit Hilena zu konzentrieren, tritt die Heilige an den Baum vor sich heran und legt ihre Hand auf seinen Stamm. Und mit einem Mal kommt Leben in den Baum. Saftig grüne Blätter brechen aus den Knospen seiner Äste, hübsche rosa Blüten erblühen und faustgroße Pfirsiche wachsen, die die Äste des Baumes mit ihrem Gewicht nach unten ziehen.

Ich starre den Baum an und muss ein paar Mal blinzeln, um zu begreifen, was ich gerade gesehen habe. Der Anblick war so surreal, dass ich wegsehen muss, zu den anderen noch kahlen Bäumen, bevor ich zu dem erblühten Baum zurücksehe, nur um ein weiteres Mal geschockt davon zu sein, dass er Früchte trägt. Und ich brauche einen weiteren Moment, bis ich begreife, dass es die Heilige war, die dafür verantwortlich ist.

Sie pflückt einen der Pfirsiche und betrachtet ihn, bevor sie ihren Schleier zurückschlägt und hineinbeißt. Sogar diese Geste, ihre gesenkten Lider, eine Hand erhoben, um ihren Mund zu verbergen, wirkt so elegant und schön, dass sogar ich sie nur anstarren kann. Und erneut komme ich nicht umhin zu bemerken, wie unfair es ist.

Sie trägt keine Schminke, noch kann sie ihr Gesicht und ihr Haar mit Cremes oder Ölen behandeln. Genau wie ich, hat sie hier kaum die Möglichkeit, sich zu waschen. Und doch sind ihre Haare geschmeidig, ihre Haut ist rein und ihre langen Wimpern von einem so tiefen Schwarz, wie ich es selbst mit Schminke nicht hinbekommen würde.

Dann pflückt sie eine weitere Frucht und hält sie Mikail hin.

Er rührt sich nicht.

Die Heilige schluckt und dann breitet sich ein wunderschönes Lächeln auf ihren Lippen aus. »Wollt Ihr sie nicht? Es schmeckt lecker.« Ihre Stimme wird diesmal nicht von den Gesprächen der anderen übertönt, sodass ich sie verstehen kann. Ihre melodische Stimme klingt so einladend, dass niemand ihre Geste ablehnen könnte.

»Ihr seid … wirklich unglaublich, Eure Heiligkeit.« Mikails Stimme ist gedämpft, weil er zum Baum sieht als er spricht. Aber als er seinen Blick wieder auf die Heilige richtet, liegt eine Wärme darin, die den Knoten in meiner Brust schmerzen lässt.

»Um ehrlich zu sein, habe ich mir große Sorgen darum gemacht, dass wir nicht genug zu essen finden.«

Ich senke den Blick auf meinen Schoß, in dem ich mit geballten Fäusten meinen Rock halte. Es gibt zwei Arten von Menschen, denen Mikail besondere Aufmerksamkeit schenkt: Die, die er bewundert und die, die Hilfe brauchen. Und die Heilige passt in beide Kategorien. Aber es ist nicht mehr als das. Immerhin ist die Heilige vor allem eine Priesterin. Egal wie schön sie ist, daran wird sich nichts ändern.



 

»Wollt Ihr einen Pfirsich, Euer Hoheit?« Dalton hält mir zögerlich einen der Pfirsiche hin, die er in seiner Jacke gesammelt hat. Wir laufen gemeinsam hinter Hilena und Jake, die miteinander streiten, was ich jedoch kaum höre.

»Danke, aber ich bin nicht hungrig, Dalton.« Ich lehne den Pfirsich höflich ab, obwohl die saftige Frucht meiner trockenen Kehle durchaus willkommen wäre. Aber obwohl die Pfirsiche nicht nur saftig, sondern auch noch ausgesprochen lecker sind, haben sie für mich einen bitteren Beigeschmack. Denn ich wäre nie in der Lage, etwas zu tun, dass annähernd so hilfreich ist, wie einen Pfirsichbaum erblühen lassen.

Ich dachte, ich wäre darüber hinaus gewachsen, nur eine Prinzessin zu sein, die nicht mehr vorzuweisen hat, als ihren königlichen Namen. Ich dachte, ich wäre jemand geworden, der Entscheidungen für sich treffen kann und nicht auf die Hilfe anderer angewiesen ist.

Aber nicht nur ist mein Versuch, meinen Fortschritt zu zeigen und Veränderung in unsere veralteten Gesellschaftsregeln zu bringen, kläglich gescheitert, ich muss feststellen, dass ich außerhalb des Einflusses, den mir meine Stellung verleiht, vollkommen hilflos bin.

»Dalton, gib mir einen«, sagt Eden, der hinter uns läuft und Dalton drosselt sein Tempo, um ihm den Pfirsich zu geben.

Ich werfe den beiden einen Blick zu, Eden im Besonderen. Mein Onkel mag ein Nichtsnutz sein, aber er wurde zum Ritter ausgebildet und besitzt entsprechend eine Menge an Aura, die es ihm erlaubt, ohne größere Probleme den ganzen Tag durch den Wald zu gehen.

Ich dagegen komme zunehmend an meine Grenzen und das trotz des Ausdauer-Buffs, den Hilena mir gegeben hat. Wir können es uns nicht leisten, längere Pausen zu machen, jetzt da Ihre Heiligkeit auf ihrem Hirsch reiten kann. Aber mein Körper schmerzt. Meine Muskeln sind noch von gestern müde und ohne die Aussicht auf einen erholsamen Schlaf, fürchte ich, dass ich nicht mehr lange durchhalte.

Mein Blick richtet sich auf Mikail, der bei Annie und der Heiligen läuft. Würde ich zu ihm gehen und ihm sagen, wie müde ich bin, würde er mir helfen. Aber das würde er für jeden tun.

Er geht bei Annie, weil sie die schwächste von uns ist, aber ich weiß, dass er auch in der Nähe Ihrer Heiligkeit sein will, um Eden von ihr fernzuhalten. Aber ich will nicht, dass er mir seine Aufmerksamkeit schenkt, weil er mich bemitleidet. Ich will jemand sein, auf den er sich verlassen kann und daher werde ich nicht jammern. 



 

Als wir schließlich eine Pause einlegen, entschuldigt sich die Heilige um einen Spaziergang zu machen, was ich in Anbetracht ihrer Verfassung etwas eigenartig finde, aber ich bin nicht unglücklich darüber. Denn als auch Annie für eine Weile im Wald verschwindet, richtet sich Mikails Aufmerksamkeit zum ersten Mal an diesem Tag vollständig auf mich. 

»Geht es dir gut?«, fragt er mit sanfter Stimme, während er vor mir auf die Knie geht und mich in Augenschein nimmt.

Ich sitze allein, da ich weiß, dass Hilena nur über Jake schimpfen würde, würde ich zu ihr gehen und ich bin nicht in der Stimmung, mir das anzuhören. Und ich bin mehr als froh, diese Entscheidung getroffen zu haben. »Ja, es ist alles in Ordnung«, sage ich mit einem Lächeln, aber Mikails kritischer Blick bleibt.

»Bist du sicher? Du siehst erschöpft aus.«

»Ich bin sicher«, antworte ich und tatsächlich geht es mir sehr viel besser als noch vor einer Minute.

Mikail nickt. »Sag es mir, wenn es zu anstrengend wird. Wir können öfter Pausen machen oder ich trage dich für ein Stück.«

Ich muss kichern. Ich weiß, dass er Annie streckenweise auf seinem Rücken trägt und der Gedanke, dass er dasselbe mit mir machen würde, erfüllt mich mit Scham und Freude zugleich. »Du solltest dich auch nicht überanstrengen«, sage ich und Mikail blinzelt, als kämen meine Worte überraschend. Wie ich es mir gedacht habe, denkt er gar nicht an sich selbst.

»Mir geht es gut«, sagt Mikail und schenkt mir ein Lächeln, dass mein Herz höher schlagen lässt.

»Wirklich? Du tust soviel, dass ich mir mehr Sorgen um dich mache als um mich.«

Er schüttelt den Kopf, aber sein Lächeln bleibt. »Um mich musst du dir keine Sorgen machen.«

»Doch, weil du dir um jeden Sorgen machst, außer dich selbst.«

Er blinzelt. Dann berührt er nachdenklich sein Kinn. »Mache ich einen so selbstaufopfernden Eindruck?«

Ich nicke.

Er seufzt. »Dabei versuche ich nur, mich nützlich zu machen. Ihre Heiligkeit tut so viel und ich weiß nicht, was ich tun kann, um ihre Last zu mindern.«

Und plötzlich ist der Knoten in meiner Brust wieder da. »Du machst dir Sorgen um ihre Heiligkeit …«

Mikail nickt. »Es sind fast drei Tage und sie hat nicht eine Sekunde geschlafen. Trotzdem benutzt sie so viel Magie.« Er wirft einen Blick nach oben, wo die Barriere der Heiligen golden über den Baumwipfeln schimmert.

Er hat recht. Ich weiß, dass er recht hat und welches Problem wir hätten, sollte die Heilige unter ihrer Last zusammenbrechen. Und doch … »Was hältst du von Ihrer Heiligkeit?« Ich frage es, noch bevor ich weiß, was ich tue. Aber selbst danach kann ich die Frage nicht zurücknehmen und sehe Mikail abwartend an.

Sein Blick kehrt zu mir zurück und seine Brauen ziehen sich zusammen. »Sie ist … eine große Hilfe und eine beeindruckendere Person, als ich gedacht habe.« Seine Worte sind bedächtig gewählt und ich kenne ihn gut genug, um zu wissen, dass es etwas gibt, dass er nicht sagen will.

»Sie ist jedenfalls noch schöner, als man sagt.« Diesmal hätte ich meine Worte am liebsten zurückgenommen. Warum habe ich das gesagt? Es klingt, als würde ich etwas andeuten wollen.

»Ja, das ist sie«, sagt Mikail, allerdings sieht er dabei nicht so aus, als würde er sie dafür bewundern.

Ich sehe ihn fragend an und er reibt sich unbehaglich den Hals. »Ich weiß, dass ich das nicht sagen sollte, aber manchmal wirkt es auf mich, als … Ich meine, Ihre Heiligkeit ist so außergewöhnlich, dass ich das Gefühl habe, dass …«

Es ist ungewöhnlich, ihn so mit den Worten kämpfen zu sehen und ich packe fest den Rock meines Kleids. »Ja?«

Mikail senkt den Blick. »Manchmal fällt es mir schwer zu glauben, dass Ihre Heiligkeit ein Mensch ist wie wir.«

Ich blinzle verdutzt.

»Ich weiß, es ist nicht nett, das zu sagen und ich meine es nicht böse. Es liegt wohl einfach daran, dass sie die Heilige ist«, erklärt Mikail hastig, als müsste er sich rechtfertigen.

Aber ich bin so erleichtert, dass ich lachen muss. Wie konnte ich so dämlich sein? Mikail ist keiner dieser einfältigen Männer, die sich nur von dem Lächeln einer schönen Frau einwickeln lassen. Ich weiß, wie viele junge Damen davon geträumt haben, Mikails Frau zu werden und es zum Teil sogar noch tun. Nicht nur ist er der Erbe eines der mächtigsten Häuser unseres Königreichs, er ist bekannt für seinen freundlichen Charakter, sein ehrenvolles Benehmen und sein Talent für Aura. Außerdem gibt es keinen schöneren Mann auf dem ganzen Kontinent.

»Verzeih, ich habe etwas Lächerliches gesagt.« Mikail fährt sich mit einem beschämten Lächeln durch die blonden Haare. Ein Hauch von Röte bedeckt seine Wangen und ich kann mich nur ein weiteres Mal beglückwünschen, dass dieser Mann mein Verlobter ist.

Ich schüttle den Kopf. »Überhaupt nicht. Ich bin nur erleichtert, dass wir dasselbe denken.«

Er sieht mich überrascht an.

»Wir alle sind seit Tagen in diesem Wald, aber sie sieht noch aus, wie an dem Tag, als sie in den Palast gekommen ist. Da ist nicht ein Fleck auf ihrem weißen Umhang!«

»Der Mantel der Heiligen ist eine Reliquie und wahrscheinlich verzaubert.« Mikail reibt sich das Kinn. »Aber du hast recht. Sie sieht nicht aus wie jemand, der krank ist und seit zwei Tagen nicht geschlafen hat.«

Während ich Mikails nachdenkliches Gesicht mustere, wird mir klar, dass das die Gedanken sind, die er hatte, wenn er die Heilige angesehen hat und ich beginne erneut zu lachen.

»Was ist?« Mikails Blick richtet sich wieder auf mich und es steht Verwirrung darin, aber er lächelt.

»Es ist nichts, ich bin nur …« Ich breche ab, als Mikail sich plötzlich aufrichtet. Jede Spur eines Lächelns ist verschwunden, als er zu den Spitzen der Bäume sieht. »Bleibt in der Barriere, Stella. Es sind Monster in der Nähe.« Mit diesen Worten rennt er in den Wald.

»Mikail!« Ich springe auf die Füße, aber da ist er schon verschwunden. Und als ich mich umsehe, weiß ich warum.

Mikails Verhalten hat alle in Alarmbereitschaft versetzt. Aber Annie ist nicht hier.

Ich packe meinen Rock. Sie sollte die Barriere nicht verlassen haben, aber sie sollte auch schon zurück sein. Auch wenn sie die Barriere nicht verlassen hat, verstehe ich Mikails Wunsch sie im Auge zu haben.

»Wir sollten alle nach Annie suchen«, sagt Jake, der meine Absicht ebenfalls in den Wald zu gehen, durchschaut hat.

Ich nicke. »Aber vorsichtig. Wir wollen die Monster nicht auf uns aufmerksam machen.«

»Was soll der Aufstand?« Eden ist der einzige, der immer noch auf dem Boden sitzt. »Sie wird schon nicht blöd genug sein, die Barriere zu verlassen.«

»Wir sollten in Paaren bleiben«, sagt Jake, als hätte er Eden nicht gehört und er ist nicht der einzige. »Ich gehe mit Hilena und Ihr solltet bei Dalton bleiben, Euer Hoheit.«

»Wir gehen in diese Richtung.« Ich deute in eine andere Richtung, als die, in die Mikail gegangen ist.

Jake nickt und nimmt Hilenas Hand, um mit ihr in die entgegengesetzte Richtung zu gehen.

Ich folge Dalton, wobei ich den Rock meines Kleids hochhalte, um so schnell wie möglich zu gehen. Trotzdem läuft Dalton sehr bald ein gutes Stück vor mir. Etwas, das ihm schließlich auch auffällt und er dreht um und kommt zu mir zurück. »Verzeiht mir, Euer Hoheit, ich bin zu schnell gegangen.« Er gestikuliert unbeholfen mit den Händen, als wisse er nicht, ob er mir seinen Arm anbieten soll oder nicht.

»Das ist in Ordnung. Es ist wichtiger, dass wir Annie finden.«

Dalton lässt die Arme sinken und sieht sich um. »Hat Lord Mikail erwähnt, was für Monster es sind?«, fragt er, während er mit zusammengekniffenen Augen versucht, etwas zwischen den Bäumen zu erkennen.

»Nein, aber er hat nach oben geschaut.«

Daltons Blick zuckt zum Himmel. »Dann - «

Ein Schrei unterbricht ihn. Ein panischer, schmerzerfüllter Schrei, der mir das Blut in den Adern gefrieren lässt. Annie!

Dalton wirbelt herum und sprintet in die Richtung, aus der der Schrei kam und seine Bewegung reißt mich aus meiner Starre. Ich hebe meinen Rock höher als schicklich ist und renne ihm hinterher. Es dauert nicht lang, bis ich kaum noch seinen Rücken sehe, aber ich rufe nicht nach ihm. Wenn Annie in Gefahr ist, braucht sie Dalton dringender als ich.

Ich weiß nicht, wie lange ich durch den Wald renne, nachdem ich Dalton aus den Augen verloren habe, aber schließlich bleibe ich keuchend stehen. Meine Lungen brennen vom Rennen und meine Beine zittern vor Anstrengung. Mir war nicht klar, wie schwach und nutzlos mein Körper ist. 

Selbst wenn ich Annie finden würde, was könnte ich schon tun? Ich bin zu schwach, um sie zu beschützen und helfen könnte ich ihr auch nicht, da ich weder Heilerin bin noch mich mit Medizin auskenne. Ich bin nicht nützlicher als Eden.

»Euer Hoheit!«

Gerade als ich überlege, mich einfach auf den Boden zu setzen und mich auszuruhen, höre ich Daltons Stimme. Kurz darauf kommt er zwischen den Bäumen hervor. »Verzeiht mir, dass ich Euch allein gelassen habe, aber wir haben Annie gefunden. Sie ist in Sicherheit.«

»Das ist gut«, sage ich, wobei ich versuche, das Keuchen aus meiner Stimme zu halten. Ich muss trotzdem schrecklich aussehen, den diesmal hält Dalton mir ohne zu zögern seinen Arm hin. »Geht es ihr gut?«, frage ich, während ich Daltons Arm nehme.

»Ja. Lord Mikail ist bei ihr. Und Ihre Heiligkeit.« Ehrfurcht schwingt bei den letzten Worten in seiner Stimme mit und erinnert mich daran, wie eigenartig Dalton sich benimmt, wann immer die Heilige in der Nähe ist.

Wir laufen ein Stück, bis wir den leuchtenden Rand der Barriere erreichen. Jake und Hilena sind bereits dort und sehen besorgt aus. Und als ich mich mit Dalton neben sie stelle, sehe ich warum.

Vor uns lichten sich die Bäume etwas und der Boden ist mit grünen Blättern bedeckt. Die Sorte, die Mikail an diesem Morgen gefunden hat. Und in dem Feld aus Blättern kniet Mikail, Annie im Arm, und sieht zur Heiligen auf, die vor ihm steht. Sie unterhalten sich und die Tatsache, dass sie dabei so gelassen wirken, lässt die Situation surreal erscheinen. Denn über ihnen kreisen einige geflügelte Kreaturen, mit grauen Körpern und roten Augen, die eine zischende, grüne Flüssigkeit auf sie hinab spucken. Sie wird von dem Schild, das, wie ich vermute, Ihre Heiligkeit beschworen hat, aufgehalten und sickert zäh und dampfend daran hinab. Aber weder die Heilige noch Mikail scheinen dem große Beachtung zu schenken.

Und dann steht Mikail auf. Er wirf den Kreaturen einen Blick zu, bevor er sich in unsere Richtung dreht und auf uns zukommt. Es liegt keine Vorsicht in seinen Schritten, obwohl die Kreaturen ihn sofort ins Visier nehmen. Dabei haben sie nicht mehr Erfolg als vorher und mein Blick huscht zur Heiligen, die Mikail gemächlich folgt.

»Weißt du, was das für Monster sind?«, frage ich Dalton mit leiser Stimme. Ich komme mir ein wenig blöd vor, weil ich dachte, dass ich mich sehr gut mit Monstern auskenne.

»Hm, ich bin mir nicht sicher …«, murmelt Dalton, dessen Blick immer wieder von den Monstern zur Heiligen rutscht.

»Es sind Gargoyle«, sagt Jake, der mich offenbar gehört hat. »Sie leben im Gebirge, aber in Ishitar gibt es sie kaum. Es sind Rang B Bestien, die Säure auf ihre Opfer spucken.«

Ich sehe ihn anerkennend an. Manchmal vergesse ich, dass auch er als Erbe eines großen Hauses erzogen wurde, obwohl er sich mit Händen und Füßen dagegen wehrt.

Ich richte meinen Blick wieder auf Mikail, der uns fast erreicht hat. Dabei bemerke ich, dass Annies Kleid ein großes Loch auf dem Rücken hat. Ich erinnere mich an ihren Schrei und noch bevor ich weiß, was ich tue, lasse ich Dalton los und gehe Mikail entgegen, soweit es innerhalb der Barriere geht. 

»Geht es Annie gut?«

»Einer der Gargoyle hat sie am Rücken getroffen.« Mikails Gesicht ist angespannt und auch nachdem er die Barriere betreten hat, hält er Annie weiter fest im Arm. »Ihre Heiligkeit hat sie geheilt, aber sie ist immer noch sehr verängstigt.«

Annie klammert sich ihrerseits an ihren Bruder und ich will mir gar nicht vorstellen, wie es ist, von Säure getroffen zu werden. Ich schlucke, als grüner Schleim die Barriere trifft, kaum dass auch die Heilige sie betreten hat. Die Gargoyle beschießen nun uns alle und ich erschaudere, als einer von ihnen einen Baum trifft und ein großes, dampfendes Loch in seiner Rinde hinterlässt.

Ich werfe der Heiligen einen Blick zu, die mit dem Rücken zu uns steht und zu den Gargoyle sieht. »Was tun wir jetzt?«

Mikail atmet aus. »Wir müssen die Gargoyle loswerden. Es sieht nicht so aus, als würden sie uns in Ruhe lassen, nur weil wir uns vor ihrer Säure schützen. Aber keine Sorge. Flieger-Typen sind nicht so stark wie ihr Rang es vermuten lässt.«

»Ja, weil sie fliegen können, was es sehr schwer macht, sie überhaupt zu erreichen«, sagt Jake. »Und wir haben nicht einmal eine Waffe.«

Er hat recht. Mikail ist ein ausgezeichneter Schwertkämpfer, aber was nützt das, wenn er kein Schwert hat.

Mikail schluckt. »Wir schaffen das schon«, murmelt er und klingt dabei wenig überzeugend. »Dalton, nimm Annie.«

Ich beobachte, wie Mikail Annie vorsichtig Dalton übergibt. Soll ich ihm meine Hilfe anbieten? Mein Mana ist geradezu lächerlich verglichen mit seiner Aura, aber anders als bei ihm, spielt Distanz für mich keine so große Rolle.

»Wo ist Prinz Eden?«, fragt Mikail, während meine Aufmerksamkeit erneut zur Barriere huscht, die wieder von der Säure der Gargoyle getroffen wird.

»Er dachte, die Barriere wäre sicher genug und ist nicht mit uns gekommen«, antwortet Jake.

»Die Barriere ist zu groß, um sie aufrechtzuerhalten, während Ihre Heiligkeit sich um die Gargoyle kümmert. Würdest du ihn herholen?«

Jake nickt und läuft sofort zurück in den Wald.

Ich schlucke, nehme meinen Mut zusammen und öffne den Mund.

»Eure Heiligkeit.«

Ich zucke zusammen, als Mikail mich keines Blickes würdigt und sich an die Heilige wendet.

»Ihr sagtet, Ihr wollt eine kleinere Barriere erschaffen, aber wenn es nur darum geht, die Säure abzuwehren, kann ich das übernehmen.«

Ich sehe zu Boden. Natürlich fragt er nicht mich. Mein Feuer kann vermutlich nichts ausrichten, aber Ihre Heiligkeit kann es.

Die Heilige richtet ihre Aufmerksamkeit auf Mikail. »Tut das. Ich entferne meine Barriere.«

»Wartet! Prinz Eden ist nicht mit uns gekommen. Bitte wartet noch, bis Jake ihn hergebracht hat.« Mikail hebt hastig die Hände, da die Heilige wohl so von den Gargoyle abgelenkt war, dass sie das Fehlen der beiden nicht bemerkt hat.

Ich starre die Heilige an, während wir warten. Sie ist mächtig, das steht außer Frage, aber sie ist immer noch eine Heilerin. Sie hat selbst gesagt, dass sie nicht für Kämpfe gemacht ist. Und wenn ich an die Bergtrolle denke, die sie in kürzester Zeit überwältigt hat, dann scheint es, als hätten die Gargoyle etwas an sich, dass sie davon abhält, sofort etwas zu unternehmen.

Wenn ich auch nur eine kleine Hilfe sein kann … »Eure Heiligkeit, gibt es etwas, das ich tun kann?«

Der Blick der Heiligen richtet sich auf mich und ich kann förmlich spüren, wie überrascht sie ist.

»Ich weiß, es ist nicht viel, aber wenn Euch mein Feuer eine Hilfe sein kann, stelle ich es Euch zur Verfügung.« Ich sehe sie mit so viel Entschlossenheit an, wie ich aufbringen kann, während ich mich zwinge, nicht zu Mikail zu sehen. Er würde mir nur sagen, dass ich ihm alles überlassen soll. Aber in dieser Situation, in der selbst er hilflos ist, will ich wenigstens versuchen, nützlich zu sein.

»Könnt Ihr die Gargoyle mit Eurer Magie erreichen?«, fragt die Heilige und ich spüre Erleichterung in mir aufsteigen, darüber, dass sie mich nicht sofort abweist.

»Ich kann es versuchen«, antworte ich und beschwöre einen Feuerball über meiner Hand, um ihr zu zeigen, dass ich keine leeren Worte gesprochen habe. Allerdings begreife ich schnell, dass es nicht so einfach wird. Nicht nur, muss ich die Gargoyle treffen und dabei die Bäume möglichst verfehlen, es ist schon schwer genug überhaupt zu zielen, da die Säure, die an der Barriere klebt, mir die Sicht versperrt.

»Einen Moment, Euer Hoheit«, sagt die Heilige dann und deutet auf meine Hand mit dem Feuerball. »Das ist zu schwach.«

Ich sehe sie verdutzt an. »Verzeihung?«

»Erhöht die Mana-Dichte in Eurem Feuer.«

Ich senke den Blick auf meine Hand. Die Dichte? Woher weiß sie, wie hoch die Dichte in meinem Feuer ist? Ich weiß, dass die Dichte des Manas Feuer verstärken kann, aber Feuer, das von Mana erschaffen wurde, ist immer stärker als natürliches Feuer.

Mein Blick zuckt zu Mikail, der ebenfalls die Flamme über meiner Hand betrachtet. Nein, ich sollte nicht arrogant sein. Wenn die Heilige sagt, dass mein Feuer zu schwach ist, wird es so sein. Immerhin weiß ich schon, dass meine Magie nicht sehr stark ist.

Ich schiebe mehr Mana in meine Hand. Das habe ich nicht mehr getan, seit der Veranstaltung und ich halte mich unwillkürlich zurück. Ich kann jetzt nicht die Kontrolle verlieren.

»Es ist in Ordnung, wenn es nur eine kleine Flamme ist. Presst Euer Mana zusammen und achtet darauf, dass der Fluss in der Flamme stabil ist«, sagt die Heilige und ich richte meinen Blick wieder auf sie. Woher weiß sie so viel über Feuer Magie.

Ich tue mein Bestes, um ihren Anweisungen folge zu leisten, aber sie ist strenger, als alle Lehrer, die ich bisher hatte. Ich presse mein Mana so fest es geht zusammen und mein Kopf brummt von der Anstrengung den Fluss der Flamme zu erhalten und doch ist es Ihrer Heiligkeit nicht genug.

Erst als endlich eine Flamme in der Größe einer Walnuss über meiner Hand schwebt, nickt sie anerkennend. »Sehr gut.«

Ich starre die Flamme an und kann selbst nicht glauben, dass es mir gelungen ist, eine so konzentrierte Flamme zu erschaffen. Allerdings kann ich sie kaum erhalten.

Die Heilige bewegt die Hand und der Schleim verschwindet von der Barriere. »Zielt auf die Flügel. Ich halte Euch die Sicht frei.«

Ich hebe vorsichtig den Blick. Die Gargoyle erscheinen so weit weg und ich schaffe es gerade so, die Flamme zu erhalten.

Ich beiße mir auf die Lippe. Nein! Ihre Heiligkeit hat mir alles erklärt, was ich wissen muss, um ihr eine Hilfe zu sein. Das einzige, was ich jetzt noch tun muss, ist den Feuerball auf die Gargoyle zu schießen. Ich muss einfach schießen.

Ich drehe die Hand, sodass sie mit der Handfläche zu den Gargoyle zeigt und schiebe die Magie von mir. Ihre Heiligkeit hat mir keine Zauberformel genannt, aber ich habe oft genug einen Feuerball geschossen. Ich kann es ohne.

Entgegen meiner Hoffnung jedoch, dass ich es, wie zuvor wie durch ein Wunder schaffe, den Zauber erfolgreich durchzuführen, fehlt es mir an Kraft und mein Feuerball geht noch innerhalb der Barriere zu Boden. Aber es sollte mich nicht überraschen. Ich habe all mein Mana aufgebraucht, sodass es nicht einmal mehr für einen Schuss reicht. »Verzeihung«, keuche ich, während ich beschämt dabei zusehe, wie Mikail meinen versagten Feuerball austritt.

»Pft, das war erbärmlich, Nichte.«

Ich werfe Eden einen verärgerten Blick zu. Mein Kopf schmerzt höllisch und das Letzte, was ich jetzt gebrauchen kann, sind seine hämischen Sprüche.

»Kein Problem«, sagt die Heilige in leichtem Tonfall, während sie sich zu mir umdreht. »Versucht es einfach nochmal.«

Ich starre sie an. Nochmal? Ich schüttle den Kopf und schäme mich dafür, als ich begreife, dass Ihre Heiligkeit mich überschätzt. »Verzeiht mir, Eure Heiligkeit, aber ich fürchte, ich habe all mein Mana verbraucht.«

»Verzeihung?« Die Heilige klingt so überrascht, als hätte sie nie erwartet, dass mein Mana jetzt schon verbraucht sein könnte.

Es ist so beschämend, dass ich sie nicht ansehen kann.

Eine Weile ist es still. Dann sagt die Heilige: »Oh. Dann werde ich die Barriere jetzt entfernen.« Sie klingt nicht enttäuscht oder verärgert. Ganz so, als hätte sie nie erwartet, dass ich ihr helfen kann.

Das sanfte Leuchten um uns herum verschwindet und ich weiß, dass uns nun Mikails Aura-Schild umgibt. Sehen kann ich ihn nicht, aber die Säure der Gargoyle bleibt genauso an ihm kleben, wie zuvor an der Barriere Ihrer Heiligkeit.

»Gut.« Die Heilige geht auf eben diesen Schleim zu, so als wolle sie den Schild verlassen.

»Eure Heiligkeit!«, ruft Mikail, bevor sie das jedoch tun kann. »Wollt Ihr nicht innerhalb des Schilds bleiben?«

Die Heilige sieht ihn an. »Ich bevorzuge es, die Gargoyle zu sehen«, sagt sie und deutet auf den Schleim, der bereits vereinzelt an Mikails Schild klebt.

»Aber wird es nicht schwer, sich auf die Monster zu konzentrieren, wenn ihr mehrere Schilde beschwört, so wie vorhin.«

»Ich habe nicht vor, irgendwelche Schilde zu beschwören.« Sie klingt amüsiert und ich verstehe nicht, wie sie so gelassen sein kann. Sie scheint kein bisschen beunruhigt zu sein, so als wäre es eine Kleinigkeit, sich von Säure beschießen zu lassen.

»Aber wie wollt Ihr …«, setzt Mikail an, aber die Heilige schnaubt leise. »Ihr solltet wissen, dass ich diesen Mantel nicht trage, weil er so protzig ist.« Damit tritt sie durch den Schild und läuft gemächlich zu der Stelle zurück, wo sie zuvor mit Mikail gestanden hat.

Es dauert nicht lang, bis sie von der Säure an der Schulter getroffen wird und ich höre, wie Mikail nach Luft schnappt und sich bewegt, als wolle er zu ihr gehen. Auch ich packe meinen Rock fester, während ich beobachte, wie die Schulter Ihrer Heiligkeit dampft. Doch der Dampf verschwindet nach und nach und gibt den Blick auf ihre unversehrte Schulter frei. Der Stoff des Mantels ist genauso weiß und unversehrt, wie er vorher war.

Ich höre, wie jemand schnaubt.

»Sie braucht nicht einmal einen Schild.« Das ist Jakes Stimme, aber ich sehe zu Mikail.

Er beobachtet die Heilige mit wachsamen Augen, aber sein Kiefer ist angespannt. Ich weiß, dass er sie beobachtet, um jederzeit einzuspringen, sollte sie seine Hilfe brauchen.

»Einfach wird es trotzdem nicht«, sagt Hilena. Sie steht bei Dalton, wohl um Annie zu untersuchen, aber ihr Blick ist nach oben gerichtet. »Diese Monster haben keine gewöhnlichen Körper. Ich kann es nicht genau sagen, da ich sie nicht spüren kann, aber ich denke nicht, dass Debuffs bei ihnen wirken würden.«

Ich richte meinen Blick wieder auf die Heilige. Als Heilerin hat Hilena ein Gespür für den Zustand eines Körpers und Ihre Heiligkeit ist eine Heilerin genau wie Hilena. Wie soll sie gegen etwas kämpfen, wenn sie ihre einzige offensive Fähigkeit nicht einsetzen kann?

»Bist du sicher?«, fragt Mikail mit rauer Stimme.

»Alles, was ich sehen kann, ist das ihre Körper eigenartig sind. Vielleicht sieht Ihre Heiligkeit mehr, aber wenn das der Fall ist, hätte sie die Gargoyle schon angegriffen, oder nicht?«

Hilena hat recht. Die Heilige steht zwar immer noch gelassen da, aber sie tut nichts, außer sich von Säure bespucken zu lassen. Aber wenn sogar Ihre Heiligkeit nicht weiter weiß, was sollen wir dann tun?

»Das kommt davon, wenn man alle Verantwortung auf ein junges Mädchen schiebt«, meldet sich jetzt Eden zu Wort. »Falls du es vergessen haben solltest, Mikail, Lorelai ist Heilerin. Sie hat keine Ahnung vom Kämpfen.«

Ich funkle ihn verärgert an. Im Gegensatz zu ihm versucht Mikail wenigstens zu helfen!

»Habt Ihr vergessen, was mit den Bergtrollen passiert ist?«, fragt Jake in einem spöttischen Tonfall und ich würde einiges geben, um zu wissen, wie er in dieser Situation so gelassen wirken kann.

»Das war Glück«, erwidert Eden und verdreht die Augen, als würde Jake etwas Offensichtliches infrage stellen. »Wir sind so plötzlich aufgetaucht, dass Lorelai die Trolle überwältigen konnte. Das hat sie selbst gesagt.«

Jake schnaubt und ich kann ihm nur zustimmen. Selbst wenn Glück eine Rolle gespielt hat, hätte es allein nicht ausgereicht, um fünf Bergtrolle zu überwältigen.

»Hört auf damit«, sagt Mikail mit angespannter Stimme. Sein Blick ist nach wie vor auf die Heilige gerichtet und ich weiß, dass er darüber nachdenkt, wie er ihr helfen kann. »Wir müssen einen Weg finden, die Gargoyle vom Himmel zu holen. Es ist - « Er bricht mit einem Keuchen ab.

Die Luft bebt. Der Atem wird aus meinen Lungen gepresst, während der Rest meines Körpers erstarrt. Eine ohrenbetäubende Stille umfängt mich, nur um im nächsten Moment von einer Stimme durchbrochen zu werden. »Genug!«

Ich höre sie wie ein Echo, sodass ich nicht sagen kann, ob sie durch den Wald oder nur durch meinen Kopf hallt. Ich will mir die Ohren zuhalten. Etwas in mir, brüllt mich an davonzurennen. Aber mein Körper ist noch immer wie erstarrt.

Und dann fällt der Himmel auf uns herab. Die Monster kreischen und die Bäume krachen, als sie von seinem Gewicht zerdrückt werden.

Ich spüre einen dumpfen Schmerz in meinen Knien, als meine Beine unter mir wegknicken. Meine Ohren rauschen und der Anblick vor mir erscheint mir wie ein Traum.

Der Wald vor mir ist plattgedrückt worden und der Boden ist mit zersplittertem Holz und den staubigen Überresten der Gargoyle bedeckt. Nur eines steht noch.

Die Heilige ist vom Himmel verschont worden. Kein Windhauch zupft an ihrem Schleier oder dem langen Mantel als wäre sie eine Statue. Das unnatürlich saubere Weiß, die majestätischen Goldstickereien und das geschmeidige Haar, das in der Sonne glitzert wie feinste Seide verleiht ihr eine unwirkliche Erscheinung. Es ist, als wäre die Person, die ich vor mir stehen sehe, kein Mensch.

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