Posterboy

XXXII.

Erschütterung

»Würdest du mir verraten, was mit dir los ist?!«

Kohei rümpft die Nase bei dem Klang von Saburos Stimme. »Das sollte ich dich fragen. Wieso störst du mich bei der Arbeit?« Der einzige Grund, aus dem er Saburos Anruf angenommen hat, ist, dass er schon seit einer Weile nichts mehr von Marika gehört hat.

Ein abfälliges Zischen ertönt aus seinem Handy. »Hast du überhaupt eine Vorstellung davon, was Marika gerade durchmacht? Und du sitzt in deinem schäbigen, kleinen Büro und verschwendest deine Zeit mit deinem bedeutungslosen Job.«

»Ich habe mich schon daran gewöhnt, dass wir unterschiedlichen Dingen Bedeutung beimessen. Zum Beispiel hat es für dich mehr Bedeutung, dich an Marika zu kleben und zu hoffen, dass sie sich an deiner Schulter ausweint, als zu versuchen, ihr Problem zu lösen. Du musst wirklich Angst haben, dass sie dich vergisst.«

»Ach ja? Und wie soll es Marika helfen, wenn du dich um deine Angelegenheiten kümmerst?«, erwidert Saburo, unbeeindruckt von Koheis Provokation. Denn, und das muss Kohei ihm zugute alten, Saburo scheint tatsächlich stets das Beste für Marika zu wollen.

Kohei lacht leise. »Ich würde es dir erklären, aber du hättest nicht anrufen müssen, wenn du in der Lage wärst, es zu verstehen.«

»Kohei!«, knurrt Saburo und Kohei kann hören, wie er sich zusammenreißen muss, um eine beherrschte Stimme zu behalten. Sein Bruder hat schon immer gesteigerten Wert auf Selbstbeherrschung gelegt und das, wie Kohei vermutet, hauptsächlich, um ihm zu zeigen, wie viel kompetenter und besser er ist. »Marika traut sich kaum vor die Tür und wenn dann nur an Orte mit hoher Security. Denkst du, ich würde sie allein lassen, wenn sie solche Angst hat? Das heißt aber nicht, dass ich nichts gegen die Situation unternehme!«

»Hast du nur angerufen, um zu prahlen?«, fragt Kohei genervt.

»Ich rufe an, weil Marika mir gesagt hat, dass für all das eine Kollegin von dir verantwortlich ist, eine Rem Aozora.«

Kohei versteift sich. Da Marika es auf Rem abgesehen hat, war es unvermeidbar, dass sie die Schuld, für das, was ihr passiert ist, auf Rem schiebt und Saburo davon erzählt. Deswegen war Kohei gründlich, als er dafür gesorgt hat, dass Marika kaum noch einen Finger rühren kann, um Rem weiter zu schaden. Aber bei seinem Bruder sieht das anders aus. »Dann weißt du ja doch, weshalb ich im Büro bin.« Kohei bemüht sich um einen lockeren Tonfall, aber selbst er hört, wie angespannt seine Stimme klingt. Er hasst es, dass er so tun muss, als würde er daran arbeiten, Rem zu bestrafen, aber für den Moment ist es die beste Möglichkeit, sie vor seinem Bruder zu schützen.

»Marika hat mir auch gesagt, dass ihr euch sehr nahesteht. Was für eine Person ist sie?«

Kohei schnaubt. »Hast du gedacht, ich erzähl dir alles, was ich weiß, damit du zum richtigen Zeitpunkt einspringen und dir meine ganze Arbeit unter den Nagel reißen kannst?« Es wäre nicht das erste Mal, dass Kohei sich für Marika um ein Problem gekümmert hat, nur damit Saburo, der in schweren Zeiten immer an ihrer Seite ist, es als einen gemeinsamen Erfolg zählen kann und es ihr berichtet, als hätte er die ganze Arbeit getan.

»Das ist jetzt nicht der Moment, um über solchen Unsinn zu streiten!«

»Seh ich genauso«, sagt Kohei und diesmal versucht er nicht, seine Stimme gelassen klingen zu lassen. Er versucht auch nicht, darauf zu beharren, wie sehr Saburo von diesem Unsinn profitiert. »Also warum tust du nicht das, was du für so wichtig hältst und überlässt es mir, mich um das eigentliche Problem zu kümmern? Ich lass es dich wissen, wenn du vor Marika damit prahlen kannst, dass du alles in Ordnung gebracht hast.«

»Ich habe niemals vor -«

»Viel Spaß beim Babysitter spielen«, sagt Kohei zum Abschied, bevor er auflegt. Er schüttelt den Kopf, während er sein Handy in seine Hosentasche steckt und den Videoraum verlässt, in den er sich zum Telefonieren verdrückt hat. Da es nur sein Bruder war, musste es nicht das Dach sein und Rem ist im Moment sowieso nicht im Büro.

Sie musste in den letzten Wochen genug durchmachen und trotzdem weiß er, dass sie früher oder später dahinterkommen wird, dass er für Marikas Probleme verantwortlich ist, wenn er die Sache mit Marika nicht schnell zu einem Ende bringt. Rem kann in dieser Hinsicht erschreckend scharfsinnig sein und sie würde es nicht gut aufnehmen. Auch wenn er es für sie getan hat, sie würde enttäuscht von seiner Handhabung der Dinge sein.

Das Problem ist, dass er Marika nicht wegen Verleumdung verklagen kann oder wegen Betrug und Betrugsversuch. Ihr Vater würde Himmel und Erde in Bewegung setzen, um alles, das auch nur entfernt nach ‚Anklage‘ klingt, unter den Teppich zu kehren. Und im besten Fall, wenn die Anklage durchgeht, würde er eine Geldstrafe für sie bezahlen und damit wäre das Thema beendet.

Daher wendet Kohei sich nicht an ein Gericht, sondern die sozialen Medien. Wenn Gerüchte darüber kursieren, dass Marika sich strafbar gemacht hat, gibt ihm das einen Grund, ihrem Vater und Saburo vorzuschlagen, sie wieder nach Amerika zu schicken, bis die Gerüchte verschwunden sind. Saburo würde sie natürlich begleiten und damit wäre er nicht nur Marika, sondern auch seinen Bruder los und alles wäre wieder in bester Ordnung.

Das Problem ist nur, dass Mr. Sasaki im Moment besonders aufmerksam ist, was die sozialen Medien angeht. Er wird sichergehen, dass jeder, der versucht, ein Gerücht über Marika in die Welt zu setzen, gefunden wird und als Geschäftsführer des größten Elektrogeräteherstellers in Japan hat er die Möglichkeiten. Das letzte Mal hat Kohei es nur geschafft, anonym zu bleiben, weil er einen Virus auf Mr. Sasakis Computer installiert hat, als er ihn wegen Marika besuchte. Aber das ein zweites Mal zu tun, wird schwierig, wenn nicht unmöglich. Als er Marika vor ein paar Tagen besucht hat, hat er kaum einen Moment gehabt, in dem er unbemerkt etwas hätte tun können. Mr. Sasaki mit einem technischen Problem abzulenken, war eine Kleinigkeit, aber Marika und Saburo loszuwerden, während er das tut, sollte kaum möglich sein.

Damit bleiben ihm nur Fake-Accounts, die selbst für Mr. Sasaki nicht zu Kohei zurückzuverfolgen sind und dazu braucht er nicht nur Hacker und einen Haufen Geld, sondern auch Zeit. Was der Grund ist, weshalb Kohei seine Tage im Büro verbringt und arbeitet, als wäre nichts. Es ist nervtötend, aber immerhin kann er Rem im Auge behalten und sehen, dass es ihr mit der Zeit besser geht.

Im Büro ist wieder Normalität eingekehrt und mit etwas Glück bleibt es auch so. So gesehen ist er froh, dass Rem um Zeit gebeten hat. Selbst Kohei würde sich nicht wohl dabei fühlen, zu versuchen, eine Beziehung mit Rem zu beginnen, während er so viel vor ihr geheim halten muss.

Mit einem Seufzen streckt Kohei sich, nachdem er die letzte seiner E-Mails, die er vor der Mittagspause lesen wollte, beantwortet hat. Einen Kunden daran zu erinnern, dass für ein neues Projekt zunächst ein Konzept des Kunden vorliegen muss, erscheint umso bedeutungsloser, wenn man so viel anderes im Kopf hat.

»Was?!«

Die laute Stimme lässt Kohei den Kopf drehen. Sie kommt aus der Richtung von Rems Schreibtisch und gehört Mori, die von ihrem Platz aufgesprungen ist. Sie hat sich eine Hand vor den Mund geschlagen und selbst über die Distanz kann Kohei sehen, dass sie zittert.

Kohei steht auf und geht zu ihr, noch bevor er sich aktiv dazu entschlossen hat. Aber er hat plötzlich dieses unangenehme Gefühl im Bauch.

»Aber das...wie konnte so etwas überhaupt passieren?!« Moris Stimme bebt, trotz ihrer scharfen Worte. »Ja...ja...gut, ich kümmere mich darum.«

»Was ist los?«, fragt Kohei, noch bevor Mori den Hörer zurück auf die Gabel gelegt hat.

Mori sieht ihn an. Ihr Gesicht ist bleich und ihre Augen wässrig. »Es gab einen Unfall auf der Baustelle von Sakitronics«, sagt sie und ihre Stimme klingt nun kraftlos. »Ein Kran hat ein paar Stahlstangen verloren, direkt über Rem.«

Koheis Herz setzt einen Schlag aus. Er versucht, den Mund zu öffnen und Mori sagen, dass sie keinen Unsinn erzählen soll. Aber seine Stimme will ihm nicht gehorchen.

»Sie haben sie ins Krankenhaus gebracht, aber sie wissen noch nichts Genaueres. Ich muss Hansawa Bescheid sagen und jemand muss für Rem einspringen. Und ihre Familie muss informiert werden. Aber ich weiß gar nicht, ob ich eine Telefonnummer habe.«

Kohei hört nichts von Moris Geplapper. Oder der Unruhe um ihn herum. Erst als ihm jemand eine Hand auf die Schulter legt, geht ein Ruck durch seinen Körper.

»Hey Mann, alles okay mit dir?«, fragt Tomoda und schüttelt ihn leicht.

Kohei atmet aus und erst da merkt er, dass er den Atem angehalten hat. »Welches Krankenhaus?«, fragt er mit rauer Stimme und so leise, dass Mori, die mit Kondo und Yamato redet, ihn gar nicht hört.

Tomoda wiederholt die Frage für ihn und kaum hat der Name des Krankenhauses Moris Lippen verlassen, stürmt Kohei aus dem Büro.

Die nächste halbe Stunde vergeht wie im Rausch. Kohei steigt in sein Auto und kommt irgendwie im Krankenhaus an. Er fragt eine Schwester nach Rem, die ihm eine Zimmernummer nennt. Er rennt beinah durch das Krankenhaus, bis er das Zimmer erreicht. Die Tür ist geschlossen, aber Kohei reißt sie ohne Weiteres auf und stürmt in den Raum.

Rem, die auf dem Bett liegt, dreht den Kopf. »Inouye -«, sagt sie noch, bevor er auf ihr Bett zustürzt. Er streckt die Hände nach ihr aus und umfasst ihr Gesicht. Erst als er in ihre vor Überraschung geweiteten, blauen Augen sieht und die Wärme ihrer Wangen unter seinen Handflächen spüren kann, verlässt die Anspannung seinen Körper und er sinkt auf den Rand ihres Bettes. Seine Hände rutschen von ihrem Gesicht und er lehnt die Stirn gegen ihre Schulter. »Wie kannst du mich so erschrecken?«, murmelt er, plötzlich sehr erschöpft.

»Tut...mir leid«, stammelt Rem und er spürt eine schwache Berührung an seiner rechten Seite. Sein Blick ist ohnehin schon nach unten gerichtet, aber er bemerkt erst jetzt die weißen Bandagen. Er hebt den Kopf und nimmt Rem genauer in Augenschein.

Sie trägt ein Krankenhaushemd und ihr rechter Arm steckt in einer Schlinge. Ihr linker Arm ist ebenfalls in Bandagen gewickelt und sie ist blass und der benebelte Blick in ihren Augen sagt ihm, dass sie starke Schmerzmittel bekommen hat.

»Ich wollte dich anrufen, aber mein Handy…«

Kohei schüttelt den Kopf, als sie in einer hilflosen Geste ihre linke Hand hebt. »Wie geht es dir?«

Rem sieht an sich herunter. »Das schlimmste ist mein Arm, da wo die Stange draufgefallen ist. Und ich hab mich beim Fallen am Knie verletzt. Aber der Rest sind nur Schürfwunden und blaue Flecken. Ich hatte Glück, weil ich am nächsten an einem Gerüst stand.«

»Das nennst du Glück?« Kohei beißt sich auf die Lippe und nimmt vorsichtig ihre linke Hand in seine. »Du hast in letzter Zeit so wenig Glück, dass ich Angst habe, dich aus den Augen zu lassen.«

Rem senkt den Blick. »Der Bauleiter hat eine schlimme Schulterverletzung und der Marketingbeauftragte ist auf den Kopf gefallen.«

»Wie ist das passiert?«, fragt Kohei, der sich in diesem Moment kaum für irgendeinen Bauleiter oder Marketingbeauftragten interessiert.

Rem legt die Stirn in Falten. »Es gab wohl ein Missverständnis. Dem Kranführer wurde gesagt, dass er die Ladung an einem anderen Ort ablegen soll, weil wir dort sind, wo er sie hätte ablegen sollen. Irgendwer hat wohl die beiden Orte verwechselt.«

»Ein Missverständnis?!«, wiederholt Kohei und Wut steigt in ihm auf. Wenn ein gebrochener Arm und ein verletztes Knie Glück sind, will Kohei gar nicht daran denken, wie die Situation hätte ausgehen können, wenn Rem kein ‚Glück‘ gehabt hätte. Aber bevor er mehr sagen kann, klopft es an der Tür.

»Bitte verzeihen Sie mein Eindringen«, sagt eine vertraute Stimme und Kohei reißt den Kopf herum.

»Oh, du bist schon hier.« Saburo bedenkt Kohei mit einem kühlen Blick.

Kohei springt auf die Füße und positioniert sich vor Rem. »Was tust du hier?«, faucht er. Seine Gedanken kreisen, während er versucht herauszufinden, wieso Saburo hier ist.

»Ich war zufällig in der Nähe und habe von dem Unfall gehört. Ich hoffe, Ms. Aozora geht es gut.«

»Zufällig!«, schnaubt Kohei abfällig. »Witze sollten lustig sein!« Es gibt nur einen Grund, aus dem Saburo Interesse an Rem haben sollte.

Saburo seufzt, aber in diesem Moment spürt Kohei eine Berührung an seiner Hand und er sieht über die Schulter.

Rem zupft auffordernd an seiner Hand, während sie sich etwas zur Seite lehnt, um an Kohei vorbeizusehen. »Verzeihung, aber wer sind Sie?« Ihre Stimme ist ruhig und gefasst, und sie mustert Saburo mit einem kühlen Blick, der kaum noch etwas von den Schmerzmitteln erahnen lässt.

»Er ist niemand, den du kennen musst. Es tut mir leid, dass er dich gestört hat. Ich kümmere mich darum«, sagt Kohei hastig und in der Hoffnung, Saburo aus dem Zimmer zu schleifen, bevor er ein weiteres Wort sagen kann.

Leider ist Saburo Koheis Einmischung herzlich egal. »Mein Name ist Saburo Inouye. Ich bin Koheis älterer Bruder.«

Rems Augen, die nur kurz von Saburo zu Kohei gehuscht sind, weiten sich. »Oh«, macht sie und scheint plötzlich verunsichert. Sie rutscht auf dem Bett herum und versucht wohl, sich aufzusetzen. »Es freut mich, Sie kennenzulernen. Bitte verzeihen Sie die Umstände. Ich bin im Moment etwas unpässlich.«

Kohei starrt Rem ungläubig an. Er versteht nicht, weshalb sie plötzlich so freundlich ist, dass es schon an Unterwürfigkeit grenzt, aber es gefällt ihm nicht. Er stellt sich wieder vor sie. »Die Umstände sind wirklich ungünstig. Wie du sehen kannst, ist Rem schwer verletzt«, sagt er, während er auf Saburo zugeht. »Wir sollten sie in Ruhe lassen und draußen reden.«

»Ich bin nicht hier, um mit dir zu reden«, erwidert Saburo unbeeindruckt, aber Kohei packt seinen Arm mit Nachdruck. »Ich habe gesagt, wir sollten draußen reden«, knurrt er leise und mit einem drohenden Funkeln in den Augen.

Saburos Augen schmälern sich und sein Blick zuckt zu Rem. Aber dann lässt er sich von Kohei aus dem Raum ziehen.

Im Flur zieht Saburo seinen Arm aus Koheis Griff. »Wieso bist du -«, setzt er an, aber Kohei packt ihn am Kragen und drückt ihn gegen die Wand. »Warst du es?!«

Saburo starrt ihn entgeistert an. »Was soll das? Ist dir klar, wo wir sind?!«

Aber Kohei festigt seinen Griff nur. »Marika hat sich bei dir ausgeheult, weil Rem es angeblich auf sie abgesehen hat, also lässt du ein paar Stahlstangen auf sie fallen?!«

»Hast du den Verstand verloren?!« Saburo packt Koheis Handgelenke und versucht, ihn von sich zu schieben.

Kohei schnaubt. »Ach ja? Dachtest du, ich glaube dir, dass du rein zufällig in der Gegend warst, von dem Unfall gehört hast und beschlossen hast, einen Freundschaftsbesuch zu machen, ohne Rem je kennengelernt zu haben?!«

»Ich bin nicht wegen dem Unfall hier!«, zischt Saburo. »Ich habe erst davon erfahren, als ich schon hier war!«

»Und weshalb warst du hier?!«

Saburo seufzt. »Ich erkläre es dir, aber lass mich erst los. Bevor uns noch jemand sieht.«

Kohei zögert. Aber da sein Bruder eher reden wird, wenn Kohei tut, was er sagt, lässt er ihn schließlich los und tritt zurück.

Saburo räuspert sich und rückt seinen Kragen zurecht. »Ich kann nicht glauben, dass du mir vorwirfst, eine Frau in so große Gefahr zu bringen, weil ich sie verdächtige, Marika in Verruf zu bringen.«

»Würdest du das nicht?!«

»Natürlich würde ich das nicht!«, erwidert Saburo energisch. »Was ist eigentlich los mit dir? Hier geht es doch um mehr, als eine verletzte Kollegin.«

Kohei antwortet nicht sofort und ihm wird klar, dass er einen Fehler gemacht hat. Er wollte Saburo glauben machen, dass er Rem im Auge behält, weil er sie verdächtigt, hinter Marika her zu sein, aber sein aufgebrachtes Verhalten hat deutlich gemacht, dass er nicht deswegen hier ist.

Saburo, für den Koheis Schweigen Antwort genug ist, verschränkt die Arme vor der Brust. »Ich wusste doch, dass etwas nicht stimmt. Seit Marika und ich in Japan sind, benimmst du dich merkwürdig. Es liegt also an dieser Frau.«

Kohei fährt sich mit der Hand über den Mund. »Es hat nichts mit Rem zu tun, okay? Sie ist auch ein Opfer, Marika hat das nur falsch verstanden«, sagt er dann bedächtig. Es ist wichtig, dass er Saburo nicht zu viel erzählt, sonst merkt er sofort, dass Kohei ihn anlügt.

»Willst du mir sagen, dass es jemand auf Marika und Ms. Aozora abgesehen hat? Und ich nehme an, du bist die Verbindung zwischen den beiden.«

Wieder lässt sich Kohei mit der Antwort Zeit. Wenn Saburo seine eigenen Schlüsse zieht, ist das umso besser. »Ich kümmere mich darum.«

Saburo schnaubt. »Ich wusste, dass deine Frauengeschichten irgendwann für Probleme sorgen werden. Das war genauso sicher, wie, dass deine mangelnde Selbstbeherrschung es unmöglich macht, dass du Marika treu bleibst.«

Kohei verdreht die Augen. Allerdings verärgert ihn Saburos Kommentar nicht so sehr, wie er zweifellos sollte. »Schön! Wie wäre es dann, wenn du und deine herausragende Selbstbeherrschung zurück zu Marika gehen und ihr deine Treue beweisen?« Kohei macht eine auffordernde Geste den Flur hinunter.

Saburo schüttelt mit einem abfälligen Blick in den Augen den Kopf. »Es ist mir einerlei, was du in deiner Freizeit tust, mit wem du dich triffst oder mit wem du dich anlegst. Aber wenn du Marika in etwas hineinziehst, ist das eine andere Geschichte. Kümmere dich darum oder ich werde es tun.«

Kohei gibt ein verärgertes Zischen von sich und diesmal ist er wirklich verärgert. Er kann es nicht ausstehen, wenn Saburo so tut, als könnte er ihm Befehle erteilen, aber da er an Kohei vorbeigeht, hält Kohei den Mund, um ihn nicht aufzuhalten. Er hat schon genug Zeit mit seinem Bruder verschwendet, während Rem schwerverletzt im Zimmer neben ihm liegt.


 

Rem verbringt eine Nacht im Krankenhaus, besteht danach aber darauf, nach Hause zugehen. Obwohl sie kaum laufen kann und mit ihrem gebrochenen Arm keine Krücke halten kann. Immerhin hat sie Kohei versichert, dass sich ihre Mutter bereits bei ihr zu Hause einquartiert hat, um sie gesundzupflegen.

Rem klingt dabei nicht sehr glücklich, was Kohei neugierig macht, was für eine Person Rems Mutter ist und wie sie zu Rem steht. Allerdings ist der Moment nicht der beste, um sie kennenzulernen. Und Kohei hat ohnehin genug damit zu tun herauszufinden, was auf der Baustelle schiefgegangen ist.

Offenbar stimmt das, was Rem über ein Missverständnis erzählt hat, im Groben, denn der Kranführer behauptet, er hätte auf Anweisung des Bauleiters gehandelt, der aber beharrt darauf, den Kranführer informiert zu haben. Da der Bauleiter bei Rem gewesen und ebenfalls von einer der Stangen getroffen wurde, erscheint er Kohei zunächst glaubhafter, da er wohl kaum seine eigene Sicherheit gefährden würde. Aber als er persönlich mit ihm spricht, ändert er seine Meinung. Kohei war schon immer sensibel, wenn es darum geht, dass man ihn belügt, und der Bauleiter benutzt den Unfall zu oft als Entschuldigung, warum er sich nicht mehr genau an alles erinnern kann.

Entweder hat er etwas verwechselt oder er hat schlicht vergessen, die Anweisung zu geben. In jedem Fall verliert er seinen Job und Sakitronics muss ein mächtiges Schmerzensgeld bezahlen. Eins, für das Kohei sich einsetzt, denn wie es so ist mit großen Unternehmen, versucht Sakitronics zunächst die Schuld von sich zu weisen, da ja der Bauleiter verantwortlich ist. Dass der Fall trotzdem für schlechte Presse für Sakitronics sorgen würde, sieht man jedoch schon daran, dass es kaum Berichte über den Vorfall gibt. Sakitronics scheint nicht zu wollen, dass darüber berichtet wird und so wirft Kohei bei einer weiteren Abmahnung an Sakitronics ein, dass er dafür sorgen kann, dass sich das ändert. Er selbst hat Beziehungen zu Zeitungsverlagen und mithilfe seines Großvaters könnte er so gut wie jede wichtige Zeitung über den Unfall berichten lassen, was als Drohung sehr eindrucksvoll ist. Leider nur als Drohung, denn Toshiro weigert sich in diesem Fall Kohei zu helfen. Wahrscheinlich ist ihm der Vorfall zu unbedeutend, um einen Streit mit Mr. Sasaki zu riskieren. Kohei ärgert sich darüber, aber da er auch ohne Toshiro bekommt, was er will, belässt er es dabei, sich im Stillen über seinen Großvater zu ärgern.

Und so bleibt Kohei nichts anders übrig, als sich auf Rem und ihre Genesung zu kümmern. Etwas, das bitter nötig ist, da Rem offenbar nicht vorhat, sich auszuruhen, so wie es Kranke und Verletzte tun sollten. Kaum dass sie wieder richtig laufen kann, taucht sie im Büro auf, mit der Begründung, dass sie ja auch mit einem gebrochenen Arm telefonieren kann.

Kohei hätte sie am liebsten sofort in sein Auto gesteckt und wieder nach Hause gefahren, aber sie bekommt unerwartete Hilfe von Kondo, die aus irgendeinem Grund einen Haufen Arbeit für Rem hat und die Situation schamlos ausnutzt.

Und dann passiert etwas, dass Kohei nicht erwartet hat. Marika taucht im Büro auf. Sie kommt kurz nach acht zur Tür herein und setzt sich auf Tomodas Platz, der im Moment bei einem Kunden ist.

»Was tust du denn hier?«, fragt Kohei mit gesenkter Stimme, während Marika ihren Stuhl näher an ihn heranrückt.

»Ms. Kondo hat mir geschrieben, dass ich herkommen soll, weil etwas mit den Verträgen, die ich geschlossen habe, nicht stimmt. Sie hat mir praktisch gedroht, Kohei. Du musst mir helfen!«

Kohei starrt Marika verwirrt an. Kondo soll sie bedrohen? Es stimmt, dass Marika Verträge mit Kunden nicht immer auf konventionelle Art geschlossen hat – um es vorsichtig auszudrücken – und jetzt, wo Kohei darüber nachdenkt, war es Kondo, die sich am meisten, um Marikas Kunden gekümmert hat, nachdem Marika nicht mehr ins Büro gekommen ist. Aber welchen Grund hätte Kondo Marika zu bedrohen? Viel wahrscheinlicher ist, dass ihr Unstimmigkeiten aufgefallen sind und sie deswegen mit Marika sprechen will.

»Ich verstehe. Aber Ms. Kondo ist im Moment nicht hier, also - « Er wird von einer kühlen Stimme unterbrochen.

»Aber ich bin hier.«

Kohei fährt herum und starrt Rem an, die plötzlich hinter ihm steht, ein frostiges Funkeln in den Augen. Kohei schluckt und wirft sämtliche Gedanken, die er eben über Kondos Unschuld hatte, in die mentale Mülltonne. Jetzt ergibt Rems unvernünftiger Wunsch zu arbeiten endlich Sinn und Kohei kann nicht glauben, dass er wirklich davon ausgegangen ist, dass Rem tatenlos dasitzen würde, wenn sie zu schlau ist, um nicht zu merken, was um sie herum passiert.

»Ms. Kondo hat mich über alles aufgeklärt und ich habe mir die besagten Verträge angesehen. Es gibt ein paar Dinge, die ich mit Ihnen klären will, Ms. Sasaki.«

Marika sieht Kohei eindringlich an und er versteht, dass sie will, dass er Rem wegschickt.

»Sie müssen Mr. Inouye nicht so ansehen, als wäre ich kurz davor, Sie in der Luft zu zerreißen«, sagt Rem, bevor Kohei den Mund aufmachen kann und er meint, einen abfälligen Unterton in ihrer Stimme zu hören. »Sie sollen mir nur ein paar Fragen beantworten. Ich bin sicher, das schaffen Sie, ohne dass er Ihnen die Hand halten muss.«

Koheis Augen weiten sich. Rem gibt sich nicht unbedingt Mühe, besonders nett zu ihren Kollegen zu sein, aber sie behandelt sie immer mit Höflichkeit und sie ist nie gehässig.

Auch Marika starrt Rem ungläubig an, da sie nicht einmal leise gesprochen hat. »Ms. Aozora, ich verstehe nicht, weshalb Sie so respektlos mit mir sprechen.«

»Und ich verstehe nicht, weshalb ich Sie hofieren muss, wenn es vor allem in Ihrem Interesse liegen dürfte, dass Ihre Arbeit nicht missverstanden wird.«

»Was wollen Sie damit andeuten?!«, braust Marika auf und springt auf die Füße.

»Dass einiges mit den Verträgen nicht stimmt, die Sie geschlossen haben«, antwortet Rem knapp und ohne zu zögern.

»Das…! Sie wollen mich doch nur wieder vorführen!« Jetzt spricht auch Marika mit lauter Stimme, sodass auch die letzten Kollegen der Verkaufsabteilung ihre Aufmerksamkeit auf sie und Rem richten.

»Ich will Sie vorführen?«, wiederholt Rem mit gerunzelter Stirn.

»Ganz genau! Sie waren das mit dem Video über mich. Ihretwegen habe ich mich nicht mehr hergetraut!«

»Tatsächlich?«

»Ja!« Marika deutet anklagend mit dem Finger auf Rem. »Sie sind mir gefolgt, wie ein Stalker, und haben heimlich Videos von mir gemacht.«

»Meinen Sie das Video, in dem Sie uns alle, als ihre folgsamen Lakaien bezeichnet haben, die bereitwillig für Sie arbeiten, so wie unprivilegierte Menschen wie wir das nun mal tun sollten? Und ich dachte, da hat jemand etwas zusammengeschnitten. Aber wenn Sie glauben, dass Ihnen jemand gefolgt ist, müssen Sie es wirklich gesagt haben.«

Marika verliert etwas Farbe und ihr Blick huscht über die Kollegen, die zuhören. »Es war aus dem Zusammenhang gerissen«, sagt sie, jetzt mit beherrschter Stimme.

»Da bin ich sicher«, antwortet Rem milde.

Kohei mustert sie misstrauisch. Es ist nicht ihre Art, ein Gespräch so in die Länge zu ziehen. Ihre Antworten bestehen aus Wiederholungen und uneindeutigen Fragen, als wollte sie nur dafür sorgen, dass Marika weiterredet. Als würde sie auf Zeit spielen und ihr Blick huscht immer wieder an Marika vorbei zur Glastür, die aus dem Büro führt.

»Was genau wollen Sie von mir? Haben Sie Ms. Kondo gesagt, dass sie mich erpressen soll, damit ich herkomme?«

Rems Blick richtet sich wieder auf Marika und sie legt den Kopf schief. »Ich soll Sie erpresst haben?«

»Tun Sie nicht so scheinheilig! Sie wollen mir doch etwas anhängen!«

»Wirklich? Was denn?«

»Das, was Sie über die Verträge gesagt haben. Dass es meine Schuld ist, dass etwas damit nicht stimmt.«

Rems Blick verdüstert sich. »Im Gegensatz zu Ihnen arbeite ich sehr sorgfältig, Ms. Sasaki. Ich werfe nicht mit Anschuldigungen um mich, von deren Richtigkeit ich nicht überzeugt bin.«

Marika lacht auf. »Nur weil Sie davon überzeugt sind, heißt das doch nicht, dass sie wahr sind.«

»Ich habe nie gesagt, dass nur ich davon überzeugt bin.« Ein höhnischer Blick tritt in Rems Augen. »Eine zweite Meinung ist eine Möglichkeit, sich von der Richtigkeit einer bestimmten Sache zu überzeugen. Und zu Ihrem Unglück stimmt Mr. Inouye mir zu.«

Kohei versteift sich. Er ist bereit, Rem bei allem zuzustimmen, das sie sagt, aber eine Vorwarnung wäre nett gewesen.

Marika lacht. »Sie glauben doch nicht im Ernst, dass Kohei auf Ihrer Seite steht? Wieso? Wegen dieser unbedeutenden Sache zwischen Ihnen?«

Kohei wirft Marika einen Blick zu. Sie schaut nicht einmal in seine Richtung, während sie das sagt. Als wäre sie zu 100 Prozent davon überzeugt, dass er hinter ihr steht. Kohei würde sich für seine schauspielerischen Fähigkeiten gratulieren, aber es scheint, dass die Vorstellung, Kohei könnte sich gegen sie stellen, so abwegig für Marika ist, dass sie sie gar nicht in Betracht zieht.

Er sieht wieder zu Rem, in der Hoffnung von ihr zu erfahren, was sie von ihm erwartet, als er das Grinsen auf ihrem Gesicht sieht. Ein weiteres Mal huscht ihr Blick zur Glastür und das Grinsen wird breiter. »Aber wer hat denn vom Junior gesprochen?«

Kohei reißt den Kopf herum und sieht zur Tür, die in diesem Moment geöffnet wird. Sein Großvater betritt das Büro, flankiert von seinem persönlichen Sekretär, Mr. Tokuma, und Mr. Nakazawa, Noués Geschäftsführer.

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